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# taz.de -- Venedig nach der Pandemie: Hoffen auf die digitalen Nomaden
> Venedig ist heute fast so voll wie vor der Pandemie. Der Tourismus boomt,
> die Bevölkerung schrumpft und altert. Ein Ökonom will gegensteuern.
Bild: Touristen hat Venedig en masse. Eine Plattform will nun Menschen zum Arbe…
Venedig taz | Sie streben wieder in Gruppen durch die Stadt, lassen sich
von ihren Handys durch die verwinkelten Gassen in tote Ecken navigieren,
drücken sich an den jeden Quadratmeter ausnutzenden Restauranttischen und
Bistrostühlen zwischen Kanälen und Häuserwänden vorbei, ordern schon
morgens um zehn ihren Aperol Spritz: In Venedig sind die Tourist:innen
zurück.
Vorbei die besucherarme Zeit der Pandemie, die den Effekt mit sich brachte,
dass das Wasser in der Lagune plötzlich sauber war und den
Venezianer:innen [1][ihre Stadt lebenswert erschien]. Die
Besucher:innen aus Asien fehlen noch immer, aber auch so ist Venedig
wieder rappelvoll.
Eine Fülle, die nicht satt macht, sondern Übersättigung vorgaukelt. Venedig
ist die Stadt des Tagestourismus, der Kurzzeitbesuche, der Investoren und
Reichen, die sich dort einkaufen, wo die Einheimischen es sich nicht mehr
leisten können. Das Problem ist bekannt, aber nicht gelöst. „Die Pandemie
hat gezeigt, wie fragil die wirtschaftliche Situation der Stadt ist“, sagt
der Ökonom Massimo Warglien von der Universität Ca’ Foscari in Venedig.
„Sie ist viel zu einseitig auf Tourismus ausgerichtet.“
Während des ersten strengen Lockdowns in Italien saß auch er zu Hause im
Homeoffice und unterrichtete virtuell. Damals kam er auf die Idee, Menschen
zum Arbeiten nach Venedig zu locken. Menschen, die länger als drei Tage
bleiben: drei, sechs oder sogar zwölf Monate.
## Doppelt so viele Menschen über 50 wie unter 50
„Die Pandemie hat auch die Regeln der Arbeitswelt verändert“, sagt
Warglien. Dauerhaft, hofft er. Deshalb hat er die Plattform Venywhere ins
Leben gerufen, die keine Jobs am Lido, aber Unterkunft und Hilfsangebote
vermitteln soll, um sich in der Stadt beruflich und privat einzurichten.
Derzeit befindet sich die [2][Website] in der Testphase, im September 2022
soll der endgültige Launch sein. Mehr als 2.600 Voranmeldungen sind
eingegangen. Etwa die Hälfte der Interessierten seien Frauen und mehr als
70 Prozent insgesamt zwischen 26 und 35 Jahre alt, erzählt Warglien in
seinem Garten nahe der Universität. „Genau die Altersgruppe, die uns in
Venedig heute fehlt.“
Denn die Bevölkerung der Stadt schrumpfte allein im vergangenen Jahrzehnt
um 10 Prozent auf heute etwa 50.000 Menschen, die noch im historischen
Stadtkern leben und sich – vor der Pandemie – einer jährlichen
Besucherschar von 20 Millionen gegenübersahen. Die jungen Leute gehen nach
der Schule weg, um woanders zu studieren und Arbeit zu suchen. Im
Stadtzentrum leben etwa doppelt so viele Menschen über 50 wie unter 50. Die
Bevölkerung Venedigs schrumpft und altert drastisch.
Auf den ersten Blick, so Warglien, scheint Venedig nicht allzu geeignet für
die neuen Formen digitaler Arbeit: weder gebe es eine besonders gute
digitale Infrastruktur noch viele Co-Working-Spaces oder
Bürogemeinschaften. „Deshalb gehen wir es anders an: Die Stadt wird zum
Arbeitsplatz.“
Dass digitales Arbeiten an ein Büro oder das eigene Zuhause geknüpft sein
müsse, hält er für den falschen Weg. Für ihn ist es eine der Lehren aus der
Pandemie, dass zwar digitale Arbeit physisch nicht mehr fest an einen Ort
gebunden ist, dass aber die Menschen durchaus nach Austausch und
Gemeinschaft verlangen, jedenfalls punktuell – all dies fänden sie in
Venedig.
Warglien schweben ausgefallene Orte in der Stadt vor, er malt eine
virtuelle Karte aus, auf der die Standorte verzeichnet sind, an denen sich
Menschen zum Arbeiten niederlassen und einbuchen könnten, zum Beispiel im
Museum, in Galerien, Gärten, Werkstätten.
Acht solcher Arbeitsplätze hat sein Team bisher ausfindig gemacht: in einer
historischen Bibliothek, im weitläufigen Gebäudekomplex der ehemaligen
Schiffswerft Arsenale, in einer Kunststiftung, auf einer der Inseln der
Lagune.
Für bestimmte Berufsgruppen käme Fernarbeit oder Remote Work eher infrage,
sagt Warglien: Leute aus dem IT- oder Marketing-Bereich sind in der
Ortswahl flexibler als beispielsweise Handwerker:innen oder
Künstler:innen. Doch auch für sie will Venywhere Orte scouten.
## Das Wohnungsproblem
Langfristig soll Venywhere wirtschaftlich selbstständig werden, doch in den
ersten drei Jahren wird es ein Spin-off der Uni Venedig bleiben, privat
finanziert durch Spenden und die Fondazione di Venezia, eine Stiftung, die
sich für den Schutz des kulturellen Erbes in Venedig einsetzt. Staatliche
oder kommunale Unterstützung hat das Start-up nicht beantragt.
Sechs Leute arbeiten in Wargliens Team, größtenteils ehemalige Studierende
seiner Fakultät. Das noch von der alten Regierung im März beschlossene
„Einjahresvisum für digitale Nomaden“ aus Nicht-EU-Ländern dürfte alles
vereinfachen, hofft Warglien. Details der Regelung sind aber noch unklar:
Sie richtet sich an „hoch qualifizierte Arbeitskräfte“, die nicht näher
definiert sind.
Mit den großen Wohnungsagenturen der Stadt ist man im Gespräch, dass sie
ihre Wohnungen auch über die Webseite von Venywhere anbieten. „Damit wäre
viel gewonnen“, sagt Warglien. Denn wer über Airbnb buche, verweile in der
Regel drei bis vier Tage in der Stadt, rechnet er vor.
Wer zum Arbeiten nach Venedig käme, bliebe aber mindestens sechs Monate.
Die Frage mittel- und langfristiger Mietverträge und passender
beziehungsweise bezahlbarer Wohnungen ist ein großes Problem – auch für
Venywhere.
Foteini Kalopoulou ist für drei Monate zum Arbeiten nach Venedig gekommen,
ihr Büro befindet sich eigentlich in Athen, wo die 27-Jährige als
Sales-Account-Managerin für die US-amerikanische Firma Cisco arbeitet. Das
Telekommunikationsunternehmen hatte sich bereit erklärt, den Piloten in
einer ersten Erprobungsphase von Venywhere zu spielen, und
Mitarbeiter:innen aus verschiedenen Standorten für einige Monate nach
Venedig entsandt.
Die Firma zahlte das normale Gehalt und den Aufenthalt, die erste Phase des
Projekts ist abgeschlossen, ob es weitergeht, ist zum Zeitpunkt des
Gesprächs unklar. Sonstige digitale Nomad:innen kommen nicht in diesen
Genuss: Wer arbeitet, zahlt seine Miete in der Regel vom Gehalt.
Kalopoulou erzählt nach Feierabend im Frühsommer enthusiastisch von ihren
Erfahrungen, sie sieht sich als Teil der Community der digitalen
Nomad:innen: „Für junge Leute ist es attraktiv, so zu arbeiten“, sagt sie.
„Arbeit ist kein Ort, wo man hingeht, sondern etwas, was man macht.“ Es
sind fast klischeehaft klingende Sätze, die der Begeisterung geschuldet
sein mögen, Teil eines interessanten Experiments zu sein.
## Overtourism eindämmen
Sie brauche keine Grünpflanzen im Büro, sondern gutes technisches Equipment
– Kalopoulou empfiehlt dringend Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung. Zu
Beginn hat die Griechin sich mit Eifer in einen Workshop zum Kennenlernen
der Stadt gestürzt – Interviews mit Kioskbesitzer:innen,
Taxifahrer:innen geführt. „Man muss sich zugehörig fühlen und deswegen
auch etwas zur Gemeinschaft beitragen.“
Draußen keinen Müll hinterlassen, der dann in den Kanälen landet, das ist
ihr wichtig. Kalopoulou hat einen Sprachkurs besucht und die internationale
Zusammensetzung der Belegschaft genossen im Forschungsinstitut nahe des
Arsenale, wo sich ihr temporärer Arbeitsplatz befindet. Venedig sei
autofrei und sicher, alles zu Fuß gut machbar. Inzwischen hat Kalopoulou
Venedig wieder verlassen, ihr Fazit fällt positiv aus.
Cisco ist ein global aufgestellter Konzern, der während der Pandemie viele
Büros geschlossen oder die Arbeitsplätze umgestaltet hat: In Zukunft wird
man sich in vielen Firmen den Arbeitstisch umschichtig teilen müssen. Doch
die Frage, wie man die Arbeit ökonomisch, angenehm und produktiv zugleich
gestaltet, stellen sich seit Beginn der Pandemie viele Unternehmen.
Massimo Warglien will Venywhere innerhalb von drei Jahren zum Laufen
bringen. Beginnen will man mit etwa 50 ernsthaften Anwärter:innen. Wer sich
nur auf der Webseite registrieren will, muss dafür nichts zahlen. Erst wenn
man einen der Dienste in Anspruch nimmt – das Einsteigerpaket für die
Vermittlung von Sprachkursen, medizinische Versorgung, Hilfe bei
Schulfragen oder Kinderbetreuung oder die Vermittlung einer Wohnung –
fallen Gebühren an.
„Man muss dem Übertourismus der Stadt etwas entgegensetzen“, sagt Warglien.
„Natürlich wird es in Venedig immer Touristen geben, aber man muss die
Dimensionen begrenzen.“ Dafür müsse die Stadt sich beleben, verjüngen,
wachsen, lebenswert und lebenstauglich sein. Warglien weiß von vielen
Venezianer:innen, die „gerne zurückkommen würden, um in ihrer Heimatstadt
zu arbeiten“. Und sei es nur für eine Zeit.
20 Aug 2022
## LINKS
[1] /Dokumentarfilm-ueber-Venedig/!5822100
[2] https://www.venywhere.it/
## AUTOREN
Sabine Seifert
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