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# taz.de -- Doku „Lagunaria“ über Venedig: Die Ballade vom Versinken
> Erst kam die Flut, dann die Pandemie. Der Dokumentarfilm „Lagunaria“ von
> Giovanni Pellegrini sinniert über ein Venedig nach seinem Verschwinden.
Bild: Segelboote auf dem Canal Grande machen in Giovanni Pellegrinis Film auf d…
Zwei Ereignisse in der jüngsten Geschichte seiner Heimatstadt Venedig
lassen den Kameramann und Dokumentarfilmer Giovanni Pellegrini nicht los.
Da war die extreme Flut am 12. November 2019, die ihm eindrücklich zeigte,
dass die Stadt angesichts der steigenden Pegelstände im Klimawandel
vielleicht bald nicht mehr bewohnbar sein würde. Kaum mehr als ein Jahr
danach zeigte Venedig, das sonst am Tourismus erstickt, im Corona-Lockdown
plötzlich ein vollkommen surreales anderes Gesicht. Angefasst von dem
plötzlichen Vorschein einer menschenleeren Zukunft hielt Pellegrini die
zuvor nie gesehenen Bilder menschenleerer Kanäle, Brücken, Gassen und
Plätze mit seiner Kamera fest.
Entstand aus den Eindrücken von der Wucht der Flutserie im Jahr 2019 der
vielfach ausgezeichnete Filmessay „Stadt der Sirenen“ (2020), suchte
Giovanni Pellegrini, der seine Filme selbst produziert, noch während der
Coronakrise des Jahres 2021 in dem folgenden, ebenso erfolgreichen Film
„Venezia liquida“ (2021) das Schlüsselthema, das beide Katastrophen in
seiner Perspektive verbindet.
Das eher lyrische Kunstwort „Lagunaria“, unter dem der Film jetzt in
Deutschland in den Kinos startet, trifft sehr gut, was den Filmemacher über
die Sprache bloßer Ereignisberichte hinaus umtreibt und zu seiner
eigenwilligen visuellen Erzählung inspiriert hat.
## Flüchtende staksten mit Koffern durchs Wasser
Filmte der studierte Schifffahrtshistoriker und einstige Naturschutzführer
in der venezianischen Lagunenlandschaft die Sturmnacht 2019 mit dem Handy,
als die Wellen gegen seine Wohnung schlugen, sammelte er tags darauf von
seiner Barke aus Bilder, wie sie nur ein einheimischer, nicht an der
spekulativen Schauseite interessierter Kameramann finden konnte.
Boote der Helfer kamen kaum noch unter den Kanalbrücken hindurch, der Sturm
zerstörte Schiffe und Gondeln, Wasser durchweichte Ziegelmauern und
Mosaikböden, Flüchtende staksten mit Koffern durch das Wasser. Aber das
Sightseeing auf Holzstegen über dem Markusplatz lief weiter.
Dass seine Heimatstadt [1][zu einem überfüllten „Touristenpark“ verkommt]
und angesichts gigantischer Kreuzfahrtschiffe die Architektur der Stadt und
den fragilen Lebensraum der Lagune aufs Spiel setzt, ist für den
42-jährigen Strubbelkopf eine ausgemachte Tatsache. So wirken seine stillen
Beobachtungen der Arbeit eines einsamen Aal- und Krabbenfischers oder die
eines kleinen Forschungsteams, das angeschwemmten Müll im Gras der
Sandbänke protokolliert und das Übermaß an „Locazione turistica“ im
Stadtinnern kartographiert, wie Fragmente einer elegischen Endzeitvision.
„Lagunaria“ setzt jedoch auf eine andere Energie als die der tragischen
Klage oder eines aktivistischen Aufrufs – das Wort Arie im Titel deutet es
an. Der Filmemacher bettet Bilder der Flutkatastrophe, die er aus „Stadt
der Sirenen“ übernahm, und Aufnahmen der gespenstischen Corona-Geisterstadt
in ein assoziatives Gesamtkunstwerk ein. Was, wenn Venedig, das einst aus
dem Wasser heraus entstand, wiederauferstehen würde und seine Bewohner
zurückfänden zu einem Leben mit der Lagune?
## Nicht ohne Pathos
Pellegrinis meditative Landschaftsbilder, seine zurückhaltenden
Porträtskizzen von Einheimischen, die fließende Sirenenmusik von Filippo
Perocco und nicht zuletzt seine von einer Frauenstimme vorgetragene
Erzählung appellieren wie eine Ballade an das Momentum einer bewussten
Rückkehr. Zweifel an der Umkehrbarkeit der seit Langem diagnostizierten
Umweltschäden rund um die Stadt klingen an, treten aber hinter seiner
Beschwörung der noch lebendigen, viel zu wenig geschätzten Naturschönheiten
der Lagune zurück.
Nicht ohne Pathos benennt der Kommentar menschliche Gier als Ursache der
Katastrophen, stellt ihr aber Pellegrinis Insiderbeobachtungen gegenüber,
mit welchen Überlebensstrategien die venezianische Stadtgesellschaft sich
den Risiken entgegenstemmt und dabei neu zusammenfindet.
## Die magischen Landschaftsmuster der Sandbänke und Priele
In milde getönten, an Morgendunst erinnernden Farbtönen feiert der Film den
Urort Venedig, der aus dem Wasser entstand (ohne auf seine Geschichte als
geopolitische Handelsmetropole einzugehen) und verortet die Stadt in den
magischen Landschaftsmustern der umgebenden Sandbänke und Priele. Männer
und Frauen sind da bei einer stillen Erkundung an den Rudern einer großen
Gondel zu sehen, andere demonstrieren auf einem der Stadtkanäle in ihren
Booten gegen die Kreuzfahrtschiffe, wieder andere mischen mit der
Künstlerin Melissa McGill das klassische venezianische Rot nach alten
Rezepturen, um mit einer kleinen Armada rot leuchtender Segelboote auf dem
Canal Grande an die Tradition solch farbiger Festzüge auf dem Wasser
aufmerksam zu machen.
Giovanni Pellegrini nimmt einen in „Lagunaria“ mit in einen Traum, in dem
[2][Venedig] lernt, mit dem Wasser zu leben, statt es einem Schicksal als
ausbeutbarem Gut zu überlassen.
22 Dec 2023
## LINKS
[1] /Fuenf-Euro-fuer-Venedig/!5955347
[2] /Venedig/!t5007598
## AUTOREN
Claudia Lenssen
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