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# taz.de -- Tourismus der Zukunft: Traumorte der Klimakatastrophe
> Grünes Wasser in Venedig! Im Jahr 2050 eine absolute Attraktion für
> Katastrophen-Touris. taz-Spekulationen über die Tourismustrends der
> Zukunft.
Bild: Leuchtend grüner Canal Grande unter der Rialto-Brücke in Venedig, 28. M…
Am Wochenende leuchtete der Canal Grande von Venedig plötzlich grün. Eine
Lokalzeitung spekulierte über die Schuld von Klimaaktivist*innen.
Später teilte eine örtliche Behörde mit, dass die Substanz Fluoreszin
dahintersteckt, die bei Tests in Abwasserkanalnetzen verwendet wird. Unser
Autor nimmt den Vorfall zum Anlass und spekuliert wild weiter über einen
möglichen Tourismustrend der Zukunft
Bei der Push-Nachricht auf dem Smartphone konnte Karlotta ihr Glück kaum
fassen: Es ist das Jahr 2050 und die Kanäle in [1][Venedig] waren grün
gefärbt. Eine Umweltkatastrophe immensen Ausmaßes? Chemikalien?
Überbordende Bakterien- oder Algenaktivitäten? Egal! Hauptsache, es
vergiftet das Meer. Venedig sollte also die nächste Station werden auf
ihrer Umweltkatastrophen-Tour, die Tochter und Vater machten, um ihre
Beziehung zu festigen. Der brennende Schwarzwald, versalzene Seen in
Neuseeland, leckende Ölplattformen vor Mexiko: Endlich hatten sie eine
gemeinsame Leidenschaft entdeckt. „Sicher werden massenhaft tote Fische an
die Strände gespült“, sagte Karlotta ihrem Vater Torsten, der bei ihrer
aktuellen Station versonnen ein Foto vom letzten Quadratmeter Schnee auf
der Zugspitze machte. „[2][So wie damals an der Oder]“, ergänzte sie, „a…
du keine Zeit für mich, deine einzige Tochter, hattest.“
Torsten packte das schlechte Gewissen. Venedig stand ja eigentlich nicht
auf der Route, denn trotz früherer düsterer Prophezeiungen war die Stadt
bisher nicht untergegangen. Das System, mit dem der Meeresspiegel möglichst
niedrig gehalten werden sollte, war zu effizient. Da hatte wohl jemand
nicht mit dem neuesten Hype der Tourismusindustrie gerechnet. Die Stadt war
bis zum aktuellen Vorfall inzwischen fast verwaist.
## Nicht anfassen!
Der grüne Schimmer war betörend. Der Gestank, den sie auf der Fahrt in
ihrem rostigen schwarzen BMW-SUV herbeifantasiert hatten, fehlte
allerdings. Der einzige unangenehme Geruch in Venedig war der Schweiß von
Tausenden Katastrophen-Touris. Scheiße! Sie trugen Shirts mit
südfranzösischen Wüstenlandschaften und wetterfeste Hüte, auf denen Dinge
standen wie „Ich habe den roten Regen von Prag überlebt“. Alle geierten auf
die Phiolen der findigen Glasbläser*innen, mit denen sie ein Tröpfchen Grün
aus den Kanälen abzwacken wollten. Souvenir muss sein!
„Nur schauen“, schrie die Polizei von ihren Bötchen die Touris an. „Nicht
anfassen!“ Wegen der immensen Wasserentnahme schimmerte bereits der Boden
des Kanals. Eine Katastrophe für die örtliche Tourismusvereinigung. Gerade
als Torsten, schmierig verschwitzt von den 46 Grad im Schatten, sich auf
der Kanaltreppe hinabbeugen wollte, um auch ein wenig Wasser zu bekommen,
tippte ihm ein Zivilbulle auf die Schulter. Festnahme.
Die anderen Touris in der Zelle hatten auch miese Laune. Draußen der
Zerfall der Welt und sie drinnen, weit entfernt von den guten Plätzen.
Dabei waren sie extra aus Dublin, Tokio, Ohio angereist. Sie grunzten sich
gegenseitig an, beschimpften sich, wenn eine*r angab, schon viel mehr tote
Haie angefasst zu haben als die anderen. Dann trat auch noch eine
Polizistin an die Zelle, die ihnen gehässig mitteilte, dass sie unnötig
angereist und verhaftet waren: „Das Zeug ist nicht mal giftig“, erklärte
sie. „Kommt nicht aus einer Fabrik, ist kein gefährliches Bakterium,
sondern einfach nur eine Aktion von diesen Klimarettern. Gibt jetzt auch
schon Razzia nach bayerischem Vorbild.“ Die Zelle eskalierte, und weil
gerade keine Klimaaktivist*innen da waren, musste man sich eben
gegenseitig schlagen.
„Razzia, nichts als Razzia, nur weil sich jemand wehrt“, flüsterte Torsten
und hoffte, seine Tochter würde etwas über Staat und Freiheit lernen. Die
letzten verbliebenen Klimaaktivist*innen, das durfte er in dieser Zelle nur
denken, nicht sagen, das waren die Guten. Er litt unter einem altmodischen
Weltbild, in dem man die Natur noch retten konnte, wenn man Lärm oder Farbe
machte, sich an Straßen festklebte.
„Wieso?“, fragte Karlotta und starrte zurück, etwas Feindseliges in ihren
runtergedrückten Augenbrauen. „Die gehen doch nur gegen
Klimaaktivist*innen vor. Sollen sie uns doch beim Untergang zusehen
lassen, ohne uns mit ihrer Moral den Blick zu versperren! Was uns jetzt
alles entgangen ist wegen dieses Fakes!“ Ein alter Mann in der Ecke knetete
aufgeregt seine Hände, die noch in Schutzhandschuhen zur Wasserentnahme
steckten. „Seien Sie nicht traurig“, wandte er sich an Karlotta. „Es gibt
noch so viel, was kaputtgehen kann. Erst letzte Woche habe ich gehört, dass
im August vermutlich wochenlang Eisstürme über Ägypten hereinbrechen
werden. Würde mich wundern, wenn der Nil das übersteht!“
30 May 2023
## LINKS
[1] /Venedig/!t5007598
[2] /Fischsterben-in-der-Oder/!5875609
## AUTOREN
Johannes Drosdowski
## TAGS
Kurzgeschichte
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