# taz.de -- Fischsterben in der Oder: Alles im Fluss | |
> Jetzt ist klar: Das Fischsterben in der Oder wurde durch eine giftige | |
> Alge ausgelöst. Doch noch lässt sich nicht alles erklären. Warum das so | |
> lange dauert. | |
Bild: Mit jedem Tag, der vergeht, wird es schwerer, die Ursache für die Katast… | |
Es ist früh am Montag in dieser Woche, als der Chemiker Manfred Santen im | |
Wendland in sein Auto steigt und Richtung Osten fährt. Er will wissen, wer | |
oder was die Oder vergiftet und [1][die größte Umweltkatastrophe in | |
Deutschland seit Jahren] ausgelöst hat. An einer Autobahnraststätte bei | |
Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern fährt Santen ab. | |
Hier ist er mit zwei Kollegen verabredet, die ihm aus Polen | |
entgegengefahren sind. Sie begrüßen sich, dann nimmt Santen zwei | |
Kühltaschen in Empfang: In einer liegen tote Fische, einzeln in | |
Plastiktüten verpackt, in der anderen stehen Glasflaschen mit Oderwasser | |
und Flusssedimenten. Santen stellt die Kühltaschen in seinen Kofferraum und | |
fährt zurück nach Hamburg. Er wird die Proben in mehrere private Labore | |
bringen und analysieren lassen. | |
Manfred Santen und seine Kollegen arbeiten bei Greenpeace, der eine in | |
Hamburg, die anderen in Polen. „Manchmal ist es gut, wenn wir unsere | |
eigenen Untersuchungen machen“, sagt Santen, als er von dem Autobahntreffen | |
erzählt. Santen ist aus Erfahrung skeptisch. Als im vergangenen Jahr [2][im | |
Chemiepark in Leverkusen ein Tank explodierte], nahm Greenpeace eigene | |
Proben in der Umgebung, auf Kinderspielplätzen und Parkbänken. Dabei wurden | |
deutliche höhere chemische Belastungen als bei den offiziellen Messungen | |
gefunden. | |
Zwei Wochen sind bereits vergangen, seit die Messwerte der regelmäßigen | |
Testung von Flusswasser in Frankfurt (Oder) plötzlich ausschlugen. Der | |
pH-Wert schnellte in die Höhe, ebenso die Werte für Chlorophyll und für die | |
elektrische Leitfähigkeit, die auf einen hohen Salzgehalt schließen lässt. | |
Drei Wochen sind bereits vergangen, seit in der polnischen Oder massenhaft | |
tote Fische gefunden wurden. Mehr als 100 Tonnen tote Fische wurden | |
mittlerweile geborgen. Und noch immer weiß man nicht sicher, was zu dem | |
großen Fischsterben führte. Wie kann das sein? | |
## Alles muss man selber machen | |
Dabei müsste es jetzt schnell gehen: Mit jedem Tag, den das Wasser die Oder | |
runter ins Meer fließt, wird es schwerer, die Ursache für die Katastrophe | |
zu finden. Chemikalien verdünnen sich und verändern ihre Zusammensetzung, | |
Gifte setzen sich im Flussbett ab. Und so mancher Fisch im Unterlauf der | |
Oder, wie die mühevoll dort wieder angesiedelten Störe, hätte gerettet | |
werden können. Wenn Behörden in diesen Tagen Fehler machen und alles zu | |
lange dauert, hat das weitreichende Konsequenzen. | |
Mike Neumann hatte sich den Start in seinen neuen Job wohl anders | |
vorgestellt. Erst am 1. August hat er die Leitung des Landeslabors | |
Berlin-Brandenburg übernommen. Vergangenen Freitag gab er dem RBB [3][ein | |
Antritts-Radiointerview]. Neumann scherzte mit dem Moderator über das | |
Chefsein, sie sprachen über sichere Lebensmittel und Arzneimittel, und | |
dann, irgendwann, auch über dieses rätselhafte Fischsterben in der Oder. | |
Dabei waren bereits Tage vorher die Messwerte des Landesumweltamts in | |
Frankfurt (Oder) dramatisch angestiegen. Schon Ende Juli waren in Polen | |
große Mengen toter Fische aufgefallen. Ob Quecksilber für das Sterben | |
verantwortlich ist, wie es zeitweise zu hören war, wurde Neumann im Radio | |
noch gefragt: Dazu könne er noch nichts sagen, die Untersuchungen dauerten | |
an. Erst übers Wochenende entfaltete sich das ganze Drama. | |
Am Mittwoch sitzt Neumann nun in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. | |
Er und das Landeslabor stehen unter gewaltigem Druck. Sie müssen möglichst | |
schnell Ergebnisse liefern, wer oder was die Katastrophe ausgelöst hat. | |
Können sie das? | |
Es ist ungewöhnlich, dass sich so viele JournalistInnen dafür | |
interessieren, woran sein Labor arbeitet. Neumann erzählt von den | |
verschiedenen Messverfahren, von teilorganischen Kohlenstoffen und | |
Phenylharnstoffen. | |
Die Medienvertreter werden nervös. Man merkt dem promovierten Chemiker an, | |
dass er sich in seinem Fach auskennt. Aber deutlich wird auch, dass sein | |
Labor nicht auf die Situation einer Umweltkatastrophe vorbereitet ist. „Wir | |
sind ein Routinelabor“, sagt Neumann mehrmals. Im Alltag seien die | |
Messgeräte darauf eingestellt, keine oder nur geringe Messwerte zu liefern, | |
jetzt müssten sie alles umstellen, nach und nach. | |
## Im Trüben fischen | |
Tatsächlich ist die Suche nach der Ursache schwierig. Denn die | |
MitarbeiterInnen im Labor wissen nicht, wonach sie suchen. Hunderte | |
verschiedene Chemikalien, Schwermetalle kommen infrage. Proben müssen | |
angereichert oder gereinigt werden, bevor sie untersucht werden. Ob er | |
wenigstens etwas ausschließen könne, wird Neumann noch gefragt. Ob es | |
überhaupt etwas gebe, was man heute wisse, was man vor einer Woche noch | |
nicht hätte sagen können. Der Chemiker zieht die Schultern hoch. Immer, | |
wenn es um konkrete Ergebnisse geht, wiegelt Neumann ab. Dazu dürfe er | |
nichts sagen, nur das Landesumweltamt. | |
Man erlebt dieser Tage, dass es die Behörden nicht schaffen, die | |
Kommunikationshoheit in der Krise zu behalten. Ein Amt verweist auf das | |
andere. Und währenddessen wuchern täglich neue Theorien wie schnell | |
wachsende Wasserpflanzen. | |
Und doch ist es ein Beamter aus dem Landesumweltamt, ein Fachmann für die | |
Flüsse und Seen Brandenburgs, der die entscheidende Idee hat. Er hat am | |
Wochenende viel nachgedacht, und im Internet nach „Killeralge tötet Fische“ | |
gesucht. Am Montagmorgen ruft er bei Jan Köhler im Berliner | |
Leibniz-Institut für Gewässerökologie an. Köhler ist Biologe und forscht zu | |
Algen. | |
Der Mitarbeiter erklärt, ihm sei aufgefallen, dass das Chlorophyll im | |
Wasser stark angestiegen ist, das deutet auf Algenwachstum hin. Er bittet | |
Köhler zu prüfen, welche [4][Algen im Wasser] sind und ob die für das | |
Fischsterben verantwortlich sein könnten. So erzählt es Köhler der taz. Es | |
geht um winzig kleine Pflanzen, die im Wasser schweben und Giftstoffe | |
abgeben können. | |
Nur, wie kommt jetzt eine frische Probe Oderwasser ins Leibniz-Institut? Im | |
Umweltlandesamt muss erst ein Dienstreiseantrag gestellt werden, damit ein | |
Mitarbeiter die Probe an der Oder entnehmen und nach Berlin bringen kann. | |
Köhler wundert sich, dass das auch bei so einer Katastrophe nötig ist. So | |
dauert es bis zum Abend, bis Köhler die Algen unter seinem Mikroskop | |
untersuchen kann. „Und Bingo!“, sagt Köhler. | |
Unter dem Mikroskop erkennt er die Mikroalge Prymnesium parvum, die | |
üblicherweise in Brackwasser vorkommt und schon in anderen Flüssen ein | |
Fischsterben ausgelöst hat. Den sicheren Beweis, dass es sich um diese | |
Algenart handelt und wie giftig sie in der Oder ist, untersuchen nun | |
Kollegen von Köhler in Dänemark und Österreich. Er erwartet die Ergebnisse | |
am späten Freitag. | |
## Grenzwerte meistens überschritten | |
Köhler erklärt, dass die Alge für schnelles Wachstum einen hohen Salzgehalt | |
benötigt. Auch die Klimakrise fördert in Fließgewässern die Entwicklung von | |
Algenarten, die sonst vor allem in Brackwassern vorkommen: Viel Licht, | |
niedriger Wasserstand, langsamer Durchfluss, das gibt der Alge Zeit zu | |
wachsen. Zudem begünstigen die Eingriffe des Menschen in den Flusslauf die | |
Algenbildung: An Staustufen sammle sich das Wasser. | |
Doch wenn es die Alge war, woher kam das viele Salz, das das Wachstum | |
begünstigte? Köhler hält es für plausibel, dass das Salz ganz legal von | |
Bergbauunternehmen in die Oder eingespeist wurde. Polnische Medien | |
berichten derzeit über legale und illegale Einleitungen aus der Zeit vor | |
und nach der Katastrophe. Vielleicht wurde salzhaltiges Wasser sogar in | |
Klärbecken gesammelt, dort hätte die Alge über Wochen wachsen können, bevor | |
sie in den Fluss kam. „Aber das ist Spekulation“, sagt Köhler. | |
Vor der Algentheorie bestimmte [5][Quecksilber] mehrere Tage die Debatte um | |
die Ursache der Katastrophe. Jan Köhler versteht nicht, warum sich zunächst | |
so auf Quecksilber konzentriert wurde. In den meisten deutschen Gewässern | |
seien die Grenzwerte ohnehin überschritten. Doch um ein Sterben auszulösen, | |
müsste der Wert viel höher sein. „Vielleicht hat da jemand nicht | |
nachgedacht“, sagt Köhler trocken. | |
Es scheinen also eher bürokratische Strukturen und eine „gewisse | |
Beamtenmentalität“ zu sein, wie ein Gesprächspartner es gegenüber der taz | |
formuliert, die dazu führen, dass in diesen Tagen unabhängige | |
Forschungszentren, die eigentlich für Grundlagenforschung zuständig sind, | |
und Nichtregierungsorganisationen oft schneller sind als staatliche | |
Behörden. | |
Am Donnerstag sitzt Manfred Santen im Hauptstadtbüro von Greenpeace in | |
Berlin-Mitte vor einem großen Wandbildschirm, um in einer Videokonferenz | |
mit seinem polnischen Kollegen zu besprechen, wie sie nun weiter vorgehen. | |
Am Morgen hat er die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke getroffen, die | |
von Problemen mit der polnischen Seite erzählte. | |
Die ersten Ergebnisse aus dem Labor sind da. Am Montag hatte Santen die | |
Proben direkt von der Autobahnraststätte in die Labore gebracht und auf | |
bestimmte Pestizide, Quecksilber und andere Schwermetalle untersuchen | |
lassen: alles unauffällig. | |
Aber: Eine private Umweltorganisation bekommt in weniger als drei Tagen | |
Ergebnisse, auf die man in den staatlichen Laboren lange wartet. „Wir haben | |
uns auch gewundert, warum das bei denen so lange dauert“, sagt Santen. | |
Viele Ergebnisse könnten Labore innerhalb von zwei Tagen liefern, etwa die | |
zu Pestiziden, den Quecksilbergehalt nach einem Tag. Das Landesumweltamt | |
teilte erst am Dienstag mit, dass Quecksilber nicht für das Fischsterben | |
verantwortlich sei. Fünf Tage, nachdem das Landeslabor hohe | |
Quecksilberwerte im Wasser gefunden hatte. | |
Jede neue These, jedes neue Indiz ist in der aktuellen Situation mit Tonnen | |
toter Fische und einer aufgebrachten Öffentlichkeit westlich und östlich | |
der Oder politisch heikel. An der Frage nach der Ursache hängt auch die | |
nach der politischen Verantwortung. Wer hätte was wann tun müssen, um die | |
Katastrophe zumindest etwas abzumildern? | |
In Berlin erscheint der polnische Greenpeace-Kollege Krzysztof Cibor auf | |
dem Bildschirm. Er sitzt auf dem Balkon des Büros in Warschau. Cibor | |
beschwert sich, wie schlecht die polnischen Behörden informieren: Dort gibt | |
es keine öffentlich einsehbaren Messwerte – und an vielen Stellen nicht | |
einmal eine kontinuierliche Überwachung. „Wir wissen nicht, wie die | |
Messwerte Ende Juli waren.“ | |
Er regt sich auf. „Wenn ich mein Haus gegen Einbrecher schützen will, mache | |
ich das auch nicht nur in den zwei Wochen nach dem Einbruch“, sagt Cibor. | |
„Ich muss es ständig machen.“ Er sagt, das größte Problem sei nicht, dass | |
jemand den Fluss verschmutzt habe – das könne man nicht immer verhindern. | |
Schlimmer sei, wie auf die Katastrophe reagiert werde. Von den angeblich | |
300 Tests auf polnischer Seite seit Anfang August seien kaum Ergebnisse | |
veröffentlicht worden. | |
Vielleicht, so die Hoffnung der Greenpeace-Leute, nehme der öffentliche | |
Druck in Polen gerade so zu, dass sich etwas ändert. Damit Werte endlich | |
regelmäßig erhoben werden. Und damit sie für jeden öffentlich einsehbar | |
sind. So könnten dann auch andere außer den zuständigen Behörden ein Auge | |
auf den Fluss haben. Gerade wegen des fehlenden Monitorings in Polen sei es | |
so wichtig, dass auch unabhängige NGOs wie Greenpeace ihre Untersuchungen | |
anstellen, sagt Cibor. | |
Santen und Cibor sprechen auch über die Alge. Sie sind sich einig, dass | |
diese nicht einfach so auftritt und dann Gifte bildet. Da müssten mehrere | |
Faktoren zusammenkommen. Aber die Labore, die Greenpeace beauftragt hat, | |
können das Gift der Alge nicht genauer bestimmen. | |
Diese Tage sind sicher keine Sternstunde der Forschungskommunikation. Aber | |
vielleicht zeigen sie der Öffentlichkeit trotzdem, wie wissenschaftliche | |
Erkenntnisse entstehen. Wie ist es möglich, dass Freitag über | |
Quecksilberverbindungen spekuliert wird, Montag über Industriesalze und | |
Mittwoch über giftige Mikroalgen? Und warum findet sich zu fast jeder | |
Vermutung jemand, der sie für unplausibel hält? | |
Die Antwort in aller Kürze: So funktioniert Wissenschaft. Hypothese, | |
Nachweis? Falsch! Nächste Hypothese. Zumindest solange alle im Trüben | |
fischen. | |
Kurz vor Redaktionsschluss meldet sich Jan Köhler: Die Algenart ist | |
bestätigt. Und seine Kollegin von der Uni Wien hat große Mengen Gift in den | |
Proben aus der Oder gefunden. Was das Algenwachstum ausgelöst hat? Die | |
Suche geht weiter. | |
19 Aug 2022 | |
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Luise Strothmann | |
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