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# taz.de -- Dokumentarfilme über Justizprozesse: Wahrheit suchen oder verschle…
> Ein Symposium der Dokumentarfilm-Initiative in Köln nahm dokumentarische
> und juristische Verfahren in den Blick. Bei beiden geht es um Wahrheit.
Bild: Dominik Wesselys Dokumentarfilm „Loveparade – Die Verhandlung“ unte…
Immer wieder geht es um die schiere Materialmenge. Hunderte Aktenorder. Da
muss ein ganzer Lkw anrücken, um die gesammelten Schriften ins Gericht zu
transportieren. Prozessieren, wie es im Rahmen einer juristischen
Verhandlung geschieht, ist vor allem auch eine Auseinandersetzung mit Text,
mit Sprache. Aussagen und Gutachten sollen helfen, das Geschehen zu
rekonstruieren, einen Tathergang auszuleuchten. Am Ende steht ein Urteil.
Oder, wie im Falle des [1][Prozesses um die Duisburger Loveparade], bei der
im Juli 2010 aufgrund einer Massenpanik 21 Menschen ums Leben kommen und
über 600 teils schwer verletzt werden, die Einstellung des Verfahrens.
„Loveparade – Die Verhandlung“ (D/E 2020), ein Dokumentarfilm von Dominik
Wessely, ist eines der Filmbeispiele, die während des Symposiums
„Prozessieren. Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren“ der
Kölner Dokumentarfilminitiative diskutiert wurden. Vielleicht ist es auch
der Film, der die Nähe zur Justiz am direktesten suchte: An allen 184
Verhandlungstagen war das Team unweit des Gerichtssaals, beobachtete
Ankünfte und Abgänge von Anklägern und Angeklagten, Zeugen und Anwälten.
Scheinbar banale Aufnahmen, die nicht nur eine gewaltige dokumentarische
Bereitschaft bezeugen – sie machen auch einiges sichtbar: Die in sich
gekehrte, verdruckste und abwehrende Körperhaltung des ehemaligen
Duisburger Bürgermeisters Adolf Sauerland etwa, der sich auch nach dem
Unglück verzweifelt an sein Amt klammerte. Aber genauso den Fakt, dass es
in Deutschland nicht möglich ist, im Gerichtssaal zu filmen.
Ein Umstand, dem die Teilnehmenden des Symposiums unterschiedlich
begegneten: Wäre es angesichts so manch kruder verlaufender Verhandlung
nicht doch besser, alles in Bild und Ton zu protokollieren? Andererseits:
Hatte man im Zuge des Vortrags „Nuremberg, the battle of the images“ der
Historikerin Sylvie Lindeperg nicht gerade erst erfahren, welchen Effekt es
hat, wer wie wann eine Kamera positioniert?
Hierarchische Anordnungen
Teil eines Prozesses zu sein, das bedeutet immer auch, einer Performance
beizuwohnen. Roben und Anordnungen markieren Hierarchien, Sprechakte werden
erbeten oder unterbunden. Auch [2][Sergei Loznitsas] durchaus streitbarer
„The Kiev Trial“ (NL/UA 2022), Kondensat eines Schauprozesses, der im
Januar 1946 stattfand und über die „Gräueltaten der faschistischen
Invasoren auf dem Gebiet der Ukrainischen SSR“ richtete, holte Verborgenes
auf die Leinwand.
Im Zentrum: Aussagen deutscher Angeklagter, Männer von unterschiedlichem
militärischen Rang, ein jeder beteiligt an diversen mörderischen
„Aktionen“. Dabei sind die Schilderungen eng an andere Personen geknüpft,
nämlich die Übersetzerinnen und Übersetzer, die die russischen Fragen an
die Täter weiterreichen und deren Antworten an das Sowjetgericht
zurückspielen. „The Kiev Trial“ ist, neben vielem anderem, ein Dokument
ihrer Arbeit, ihres Schweißes, ihrer Konzentration und Wut – und teils auch
Überforderung.
Das Symposium, kuratiert von Michelle Koch, lenkte seine Aufmerksamkeit
bewusst in mannigfaltige Richtungen, spielte mit verschiedenen Formaten und
Herantastungen. Die zusammengetragenen Perspektiven erhellten,
demonstrierten aber zuverlässig auch die Komplexität des Gegenstandes:
Zwischen Wahrheitssuche und -verschleierung, versuchter Sachlichkeit und
Anprangerung, Manipulation und Investigation ist alles möglich. Ein
einziger Tatbestand zwingt Menschen in Rollen, macht sie zu Opfern oder
Beschuldigten, Verteidigern oder Skeptikern.
Künstlerisches Prozessieren
In „Wo Feuer ist, ist auch Rauch“ (DE 2016) seziert Regisseur Volker Köster
einen Vorfall in Paris, bei dem in einer aufgeheizten Situation ein
Polizeiauto von Demonstrierenden in Brand gesteckt wird, woraufhin sich
einer der Beteiligten aus der Menge schält und den noch immer im Auto
befindlichen Beamten seine Hilfe anbietet. Eine undurchsichtige,
möglicherweise fingierte Situation, die Köster Spielraum für ein eigenes
künstlerisches Prozessieren gewährt.
[3][Regina Schillings Essayfilm „Diese Sendung ist kein Spiel – Die
unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ (D 2023)] führte derweil zurück
nach Dunkeldeutschland. Hier knöpft sich Schilling die Ikone des
True-Crime-Pionierformats „Aktenzeichen XY… ungelöst“ vor, weist nach, w…
Inszenierungen von Verbrechen genutzt wurden, um Ressentiments zu schüren
und Menschen, vornehmlich Frauen, zu bestimmten Verhaltensweisen zu
bewegen.
Marie Wilke, die in Reaktion auf „Aktenzeichen XY… ungelöst“ schilderte,
immer Angst vor Westdeutschland gehabt zu haben, interessieren in ihrer
[4][dokumentarischen Miniserie „Höllental“ (D 2021)] andere Dinge: die
weiten, allesamt ins Nichts führenden Ermittlungen um die verschwundene
Peggy Knobloch und die mit ihr einhergehenden Erzählungen, die eine
Gesellschaft selbst konstruiert.
In besonderer Erinnerung aber wird ein Baum bleiben. Er ist in Michel
Klöfkorns „How Much State Is in the Nazi Scene?“ (DE 2017) zu sehen, der
sich mit dem NSU-Komplex und einer staatlich angeordneten Spurenverwischung
befasst. Der Baum: kahl, aber über und über behangen mit geschreddertem
Papier.
16 Jan 2024
## LINKS
[1] /Verteidiger-ueber-Loveparade-Prozess/!5676939
[2] /Ukrainischer-Regisseur-ueber-Dokus/!5918485
[3] /Aktenzeichen-XY/!5949799
[4] /ZDF-Serie-ueber-den-Fall-Peggy-K/!5742505
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Film
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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