| # taz.de -- Dokumentarfilm „Störung“: Fünf nüchterne Episoden | |
| > In „Störung“ versucht Constantin Hatz für die Texte eines toten Freundes | |
| > Bilder zu finden. Ungewöhnlich, aber eindrucksvoll nähert er sich an. | |
| Bild: Verflochtenes Leben: Szene aus „Störung“ | |
| Ein Lkw hält auf einer Landstraße, am Rand Büsche, links ragt ein Baum | |
| hervor, rechts ein Hochspannungsmast, von dem eine Leitung schräg rechts in | |
| den Bildhintergrund führt. Der Fahrer steigt aus. „Ich bin in einen | |
| kontinuierlich beklemmenden Existenzzustand hineingeboren. […] Ständig muss | |
| sich meine Existenz gegen Trümmer der Vergangenheit zu Wehr setzen – | |
| ununterbrochen der Gedanke: ‚Warum ich zufällig übrig geblieben bin‘.“ | |
| Dann steigt der Fahrer wieder ein, fährt weiter. Die Sonne wirft Schatten | |
| auf den Aschenbecher, der neben dem Schalthebel steht. | |
| Die Worte des Brummifahrers am Anfang [1][von Constantin Hatz’] „Störung“ | |
| sind nicht seine, sie stammen von Notizen eines Freundes des Regisseurs, | |
| der sich 2015 umgebracht hat und Hatz seine Aufzeichnungen überlassen hat. | |
| Ende Oktober [2][feierte der Film auf den Hofer Filmtagen Premiere]. | |
| Der Lkw-Fahrer-Text spricht von einer Flucht über Feldwege, von Soldaten, | |
| die den Vater des Schreibers mitgenommen haben, und vom Fund einer Leiche | |
| auf einem der Felder, der Mutter, die versucht, ihren Sohn zu beschützen. | |
| Als Mutter und Sohn im Flüchtlingsheim ankommen, sind die Füße des Sohnes | |
| mit Blasen bedeckt. | |
| ## Arbeitsalltag Brummi-Fahrer | |
| Der Text liegt unter Bildern aus dem Arbeitsalltag des Lkw-Fahrers. Sie | |
| sind schwarzweiß und so reich an Graustufen, dass sie an | |
| Silbergelatineabzüge aus der frühen Fotografie erinnern. Schärfentiefe und | |
| Licht heben den Fahrer leicht vom Hintergrund ab. | |
| Hatz hat aus den umfangreichen Notizen seines Freundes, die dessen Leben | |
| reflektieren, fünf Episoden kondensiert: fünf Settings mit fünf | |
| Darstellern. Ein junger Mann, der in einer Pension ein Zimmer putzt, | |
| spricht Texte über die Untersuchung an der Grenze, das Leben im Wohnheim, | |
| die erste Zeit in der neuen Heimat. Die meisten Passagen widmen sich den | |
| Herausforderungen, sich einen neuen Alltag an einem neuen Ort, mit neuen | |
| Menschen, einer neuen Sprache aufzubauen. | |
| „Verstanden habe ich die deutsche Sprache schnell. Doch ich fürchtete mich | |
| davor, sie zu verwenden. Es war schlimm für mich, in manchen Situationen | |
| keine Sprache zur Verfügung zu haben.“ In der Ton-Bild-Schere zwischen dem | |
| scheinbar einfachen Alltag der Sprecher:Innen und dem Kampf des | |
| Textverfassers um ein Ankommen macht „Störung“ die psychischen, | |
| körperlichen, emotionalen Herausforderungen sichtbar, die nach einer | |
| erfolgreichen Flucht den Prozess des Ankommens begleiten. | |
| ## Neue Unsicherheit | |
| Der scheinbare Moment der Sicherheit, der neue Unsicherheiten produziert. | |
| Nach etwa einem Drittel, der Verfasser des Textes hat gerade erfahren, dass | |
| die Leiche seines Vaters gefunden wurde, taucht erstmals der eigene Tod als | |
| Option auf: „In diesem Moment begriff ich, dass es einem danach verlangen | |
| kann, zu sterben.“ | |
| Indem Hatz die Texte seines Freundes als Grundlage für einen inszenierten | |
| Dokumentarfilm nutzt und sie mit Spielszenen unterlegt, entfernt sich der | |
| Regisseur von einem rein abbildhaften Filmkonzept. | |
| Im Presseheft erläutert er seine Entscheidung für diese Form in Abgrenzung | |
| zu anderen Optionen: „Man hätte sein Leben dramatisieren und für einen | |
| Spielfilm adaptieren können. Oder man hätte mit einem rein dokumentarischen | |
| Ansatz Personen auswählen können, die ihn kannten und etwas über ihn vor | |
| einer Kamera erzählen – dadurch würde man aber nur einen Zugang zu | |
| Wahrnehmungen über ihn von anderen Personen erhalten, seine Innenwelt | |
| bliebe jedoch verborgen.“ | |
| ## Resonanzraum für Assoziationen | |
| Sein Freund sei „immer davon überzeugt [gewesen], dass ein Mensch in seiner | |
| Vollkommenheit nur im Geschriebenen existieren kann. Er hat an einem | |
| bestimmten Punkt seines Lebens seine physische Existenz beendet und | |
| existiert für mich dennoch in seinen Texten weiter.“ Die Strenge der Form, | |
| die Nüchternheit der Inszenierung und die Reibung zwischen Bild und Text | |
| öffnen einen Resonanzraum für die Assoziationen und Reaktionen. | |
| In zwei Punkten bleibt die Entscheidung des Regisseurs für diese Form | |
| ambivalent: die gleichen Mechanismen, die den Resonanzraum öffnen, erwecken | |
| bisweilen vor allem in den Fluchtszenen einen überpersönlichen Eindruck. | |
| Wird hier eine Person mit Fluchterfahrung ins Zentrum gerückt oder Flucht | |
| thematisiert? Durch den vermutlich unvermeidlichen Eingriff des Regisseurs, | |
| der die Texte zu den fünf Episoden verdichtet hat, stellt sich die Frage | |
| nach dem Stellenwert des Textes. Sind die Passagen noch im Tonfall, Duktus | |
| und Gedankengebäude des Toten oder haben sie sich (auch ungewollt) dem des | |
| Regisseurs angeglichen? | |
| „Störung“ ist eine formal ungewöhnliche, eindrucksvolle Annäherung eines | |
| Filmemachers an seinen toten Freund. Anhand von dessen Texten lädt das Werk | |
| zu einer Reflexion über Fragen von Flucht, Migration und psychischer | |
| Gesundheit. | |
| 30 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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