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# taz.de -- Buch über „psychische Störungen“: Was ist der Mensch?
> „Unter Verrückten sagt man du“ heißt Lea De Gregorios Buch über all je…
> die als nicht normal gelten. Sie leiden unter „psychischen Störungen“.
Bild: Als junge Erwachsene kam Lea De Gregorio in die Psychiatrie. Dort bestimm…
Wenn es nach Lea De Gregorios Ärztin gegangen wäre, würden Sie diesen Text
nicht lesen. Lea De Gregorio hätte nicht studiert und [1][sie würde heute
nicht als Journalistin arbeiten]. Sie hätte nicht das Handwerkszeug
erworben, um ein Buch über die Probleme der Psychiatrie zu schreiben. De
Gregorio hat die Warnung, all das würde sie, die Frau mit der Diagnose,
überfordern, in den Wind geschlagen. Vor Kurzem erschien ihr Buch „Unter
Verrückten sagt man du“. Es ist die „Geschichte einer Selbstermächtigung�…
Denn als „Verrückte“ ist sie Gegenstand der Analyse und Bewertung anderer,
der „Professionellen“ der Psychiatrie, die zum einen oft der Ansicht sind,
dass „Verrücktheit“ das Ergebnis genetischer Dispositionen und physischer
Ursachen ist, und zum anderen psychotische Episoden als „sinnloses Erleben“
charakterisieren. Ihr Buch beginnt mit ihrer Aufnahme in eine
psychiatrische Akutstation in Berlin. Zuvor hatte sie nächtelang nicht
geschlafen, weil sie so viel nachdenken musste.
„Ich war überarbeitet und in dem ganzen Jahr zuvor war viel passiert, mein
Kopf quoll über vor Lebensfragen. Alles war getränkt in Gefühlen und ich
verstand die Welt um mich herum nicht mehr, alles war anders als sonst. Man
könnte sagen, ich steckte tief in einer Lebenskrise, ich hatte Angst und
ich hoffte, dass der Mann im Kittel mir weiterhelfen konnte.“ Doch der
Inhalt ihrer Episoden stößt auf wenig Interesse.
„Unter Verrückten sagt man du“ beginnt wie ein Memoir, reißt jedoch die
Grenzen des Genres sogleich ein. De Gregorio vermittelt den Stand
psychiatrischer Theorie und Praxis und philosophiert darüber, was bei bei
psychotischen Episoden geschieht.
Sie fragt vorsichtig, ob es Verbindungslinien gibt, die heutige
Psychiatrie mit der NS-Wissenschaft, der „Rassenhygiene“ und dem
Sozialdarwinismus verbinden, und diskutiert Ideen und Vorschläge, die in
den psychiatriekritischen Betroffenenbewegungen der vergangenen Jahrzehnte
entwickelt worden sind. Sie kämpft gegen die Stigmatisierung von Menschen,
die zu Nichtnormalen gemacht werden, eignet sich den Begriff des
„Verrücktseins“ an. Sie sucht bei Denkern Rat, lässt Wissenschaftler und
Psychiatrieerfahrene zu Wort kommen.
## Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft
De Gregorio kommt zum Schluss, dass es darum gehen muss, „das Thema
Psychiatrie vom Rand in die gesellschaftliche Mitte zu holen und
‚psychische Störungen‘ bzw. ‚auffälliges Verhalten‘ nicht als Abnorma…
zu bewerten, sondern – ähnlich wie es auch der Begriff der Neurodiversität
ausdrückt, den vor allem viele Menschen mit ADHS und Autismus heute
zunehmend als Selbstbezeichnung verwenden – wertfrei als anders als der
quantitativ überwiegende Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.“
Von „Abnormalität“ kann schon aus statistischen Gründen nicht gesprochen
werden. Bundesweit erfülle mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum
eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung, hält die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde fest. Wir alle sind also auf die eine oder andere Weise
damit konfrontiert.
Solches Anders-Sein erscheint aus De Gregorios Perspektive aber auch nicht
als qualitativer Unterschied, sondern vor allem als einer der Intensität,
der allerdings – wenn er episodisch auftritt – oft zur Folge hat, dass
davon Betroffene Schwierigkeiten haben, sich im im Alltag zurechtzufinden.
Das gilt ebenfalls nicht als normal und flößt ihnen wie ihren Angehörigen
häufig Angst ein.
Die Psychiatrie übernimmt in der Gesellschaft nicht nur die Aufgabe einer
institutionellen Abwehr des Anderen, sondern sie produziere und inszeniere
selbst einen angstbesetzten Raum, „eine Drohkulisse, um für alle eine
Abschreckung zu sein“, wie der Psychologe Robin Iltzsche schreibt, „um ein
Ort zu sein, an dem niemand sein will und von dem alle wegwollen, wenn sie
doch mal dort gestrandet sein sollten.“ So nimmt es nicht wunder, wenn sich
De Gregorio fragt: „Inwiefern sind wir Verrückten in unserer Gesellschaft
bis heute eine unterdrückte Minderheit? Und welche Rolle spielt dabei die
Psychiatrie?“
## Existenzielle Fragen am ganzen Körper erleben
Eine Antwort gibt der Psychiater Neel Burton: „Dass der Krankheitsverlauf
in traditionellen Gesellschaften im Allgemeinen günstiger ist, kann damit
zusammenhängen, dass psychische Störungen dort eher als Teil des Lebens und
nicht als ein Zeichen von Krankheit oder Versagen betrachtet werden.“
De Gregorio fügt dieser These eine eigene hinzu: „Im Raucherraum
bequasselten wir Verrückten die großen Fragen unter uns. ‚Was kann ich
wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?‘ Ich
glaube, dass es in vielen schweren psychischen Krisen implizit oder
explizit um diese vier berühmten Fragen von [2][Immanuel Kant] geht, die
man, wenn man sie sich während der Verrückung nicht auf dieselbe rationale
Weise stellt wie sonst, am ganzen Körper erlebt.“
De Gregorio argumentiert, dass sich auch die Gefühle und Gedanken, die als
krank gewertet werden, nicht aus dem Nichts einschlichen, „sondern immer
mit Ereignissen, einer Einstellung, einem Bedürfnis, einem Missstand,
kurzum: einer Bedeutung zusammenhängen, auch wenn diese sich vielleicht
nicht immer gleich erschließt.“
## Der Begriff „psychisch krank“ ist schädlich
Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz geht so weit, die Validität
psychiatrischer Diagnosen in Frage zu stellen. Er hält sie für
stigmatisierende Abstempelungen, die so formuliert seien, „dass sie
medizinischen Diagnosen ähneln, und die auf Menschen angewendet werden, die
ihre Mitmenschen irritieren oder nicht passen“.
Der Psychiatrie-Erfahrene Matthias Seibt hält bereits den Begriff
„psychisch krank“ für schädlich. Als Begründung nennt er ein Beispiel:
„Also da ist jemand Opfer einer Gewalttat geworden und leidet seelisch
darunter. Das ist ja eine angemessene Reaktion, wenn es jemandem schlecht
geht, warum soll das eine psychische Krankheit sein?“ Doch auch wenn die
psychiatrische Definition wegfiele, bliebe doch das Leiden für Betroffene
und ihre Familien real.
De Gregorio befasst sich daher auch mit der Frage der Medikation und mit
neuen Modellen, mit denen reformorientierte Psychiater Menschen bei akuten
Episoden in Umgebungen aufzufangen versuchen, die nicht so angsteinflößend
und von Machthierarchien geprägt sind wie Akutstation und Klinik.
Das Thema verletzter Menschenrechte spielt in De Gregorios Überlegungen
ebenso eine Rolle wie Diskriminierungen, die sie als intersektional geprägt
versteht. Ein muslimischer Mann, der nicht wie ein Akademiker spricht, wird
als „psychisch Kranker“ möglicherweise stärker diskriminiert als eine wei…
Frau mit Universitätshintergrund.
## Immer wieder feiner Humor
Unter psychischen Störungen leiden auch Lehrerinnen, Richter und
Psychiater, was Letzteren allerdings nicht den Ruf einträgt, mehr Expertise
zum Thema zu besitzen als „gesunde“ Kolleg*innen. Unterdessen werden
mancherorts Menschen mit Psychiatrieerfahrung dafür ausgebildet, diese in
psychiatrischen Einrichtungen einzubringen.
Neben all dem Negativen, dem Schmerz und der Unterdrückung, die man auf
einer Akutstation erleben könne, sei das Charmante an diesen Orten, dass
dort alle zusammenkämen. „Man kann dort so vieles über die menschliche
Existenz erfahren, auf solch schonungslose und unmittelbare Weise wie sonst
vielleicht nirgendwo. Ich habe die Gespräche im Raucherraum der Station
später manchmal vermisst“, schreibt De Gregorio, die sich selbst als
lebensfroh erfährt.
In ihrem klugen Buch, das sich auch als Handbuch für Betroffene lesen
lässt, blitzt immer wieder feiner Humor auf. Sie führt sich und uns vor
Augen, wie wenig wir immer noch über das „Verrücktsein“ wissen.
12 Jun 2024
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## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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