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# taz.de -- Filmdoku über Psychiatrie: Um den Rest von Freiheit kämpfen
> Zugewandtheit und Widerständigkeit: Nicolas Philiberts Dokumentarfilm
> „Averroès & Rosa Parks“ widmet sich einer psychiatrischen Klinik in
> Paris.
Bild: Wer in einer der Stationen „Averroès“ oder „Rosa Parks“ lebt, w�…
Averroès & Rosa Parks“ beginnt mit dem seltenen Fall einer sinnvollen
Drohnenaufnahme im Dokumentarfilm. Luftbilder zeigen das Klinikgebäude des
Hôpital Esquirol: ein rechteckiges Gebäude entlang einer Straße. Der
Eingang ist flankiert von einer Gebäudereihe, dahinter schließen sich zwei
Reihen wabenförmige zweistöckige Gebäude an, die jeweils einen
quadratischen Innenhof umgeben. In der Achse hinter dem Eingang erstreckt
sich ein begrünter Innenhof, dahinter die Kapelle.
Zwischen diese Aufnahmen, die zu Beginn den Schauplatz des Films
etablieren, hat der französische Dokumentarfilmregisseur Nicolas Philibert
Szenen geschnitten, in denen Patient:innen, Ärzt:innen und
Pfleger:innen die Luftaufnahmen sehen. Einige erkennen sofort, wo sie
selbst gerade sind. „Averroès & Rosa Parks“ beginnt also mit einer
Selbstverortung derjenigen, die in einem der bekanntesten Gebäude des
Architekten Émile Gilbert leben und arbeiten. Der Film ist benannt nach den
beiden Wohneinheiten innerhalb des Krankenhauses.
Wie das psychiatrische Tageszentrum Adamant, dem sich [1][Philibert in
seinem vorangegangenen Film „Auf der Adamant“] widmete, gehören die beiden
Wohneinheiten zum psychiatrischen Angebot der Pariser Zentralgruppe, einer
medizinischen Struktur der französischen Hauptstadt. Philiberts neuer Film
feierte als Special auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere.
Die ersten Aufnahmen zu „Averroès & Rosa Parks“ entstanden im Rahmen der
Arbeit am Vorgängerfilm. Weil die Teile der Pariser Zentralgruppe, zu der
neben der Adamant und den Wohneinheiten Averroès und Rosa Parks noch zwei
medizinisch-psychologische Zentren und ein mobiles Team gehören, eng
verzahnt sind, begann Philibert nach den Aufnahmen im Tageszentrum einigen
Patient:innen auch in die Wohneinheiten zu folgen. Anders als „Auf der
Adamant“ besteht „Averroès & Rosa Parks“ hauptsächlich aus Zweiergespr�…
zwischen Patient:innen und Psychiater:innen.
## Zwei Meter von meinem Bett bin ich im Ausland
Im Interview im Presseheft sagt Philibert über das Verhältnis der beiden
Filme: „Es ist ein bisschen so, als ob ich, nachdem ich die Bühne gefilmt
habe, dieses Mal die Kulissen und den Keller zeigen würde. Die Atmosphäre
im Krankenhaus ist ganz klar eine andere, der Ort ist viel kahler und die
Patient:innen, die dort gelandet sind, erleben eine Phase, in der sie
verletzlicher und unsicherer sind.“
Die beiden Filme sind Auftakt einer Trilogie. Der dritte Film, der aktuell
in Arbeit ist, wird sich einer Gruppe von handwerklich geschickten
Betreuern der Adamant widmen, die für kleinere Reparaturen die
Besucher:innen des Tageszentrums auch zu Hause aufsuchen.
In einem der Innenhöfe des Krankenhauses hat jemand auf die Wand
geschrieben: „Zwei Meter von meinem Bett entfernt bin ich schon im
Ausland.“ Ein Satz, der ausdrückt, wie verunsichernd und kräfteraubend die
Begegnung mit der umgebenden Welt in manchen Momenten sein kann.
In fast allen Gesprächen wird eine große Sehnsucht der Patient:innen
sichtbar, einfach wieder ein Leben zu führen. „Ich hätte gern ein Leben,
das einfach – ich weiß, ich werde begleitet werden müssen –, aber einfach
weniger auf die Psychiatrie konzentriert ist“, sagt eine der Patient:innen.
Während „Auf der Adamant“ den zweiten Schritt eben dahin zeigte, steht im
Zentrum von „Averroès & Rosa Parks“ der erste Schritt, die harte und für
alle Seiten ermüdende psychiatrische Arbeit, um Menschen nach einer Krise
wieder auf die Beine zu bringen und sie im Idealfall zu einem
selbstbestimmten Leben zu befähigen.
In einigen der Gespräche mit Patient:innen, die im Begriff sind, die
Wohneinheiten zu verlassen, wird erahnbar, wie schwierig der Rückweg in den
Alltag ist. Oft verweisen die Psychiater:innen auf die Adamant als
wichtige Hilfsstation auf diesem Weg.
Neben den Zweiergesprächen stehen einige Aufnahmen der wöchentlichen
Betreuer:innen-Patient:innen-Treffen im Gewächshaus und der „Bar“. Im
Gewächshaus finden auch Workshops wie die Herausgabe einer Anstaltszeitung
statt. Ein Patient betont die Bedeutung dieser Aktivitäten und Freiräume:
„Wir ersticken, wenn wir Krieg gegen uns selbst führen. Wenn es keine Atmer
im Krankenhaus gibt, also Unternehmungen wie die Bücherei oder das
Gewächshaus.“
Die Klinik am südlichen Rande des Bois de Vincennes, einem der Stadtwälder
am südöstlichen Rand des eigentlichen Stadtgebiets von Paris, erscheint in
dem Versuch, diese Freiräume zu bewahren, mehr und mehr als Insel.
## Unterbesetzt und unterfinanziert
Wie bedrohlich psychiatrische Maßnahmen trotz aller Versuche der Empathie
bleiben, dringt in einer der Szenen des Films durch. Während eine junge
Patientin die Geschichte ihrer Depression und eines Selbstmordversuchs mit
einer Psychiaterin rekonstruiert, dringen Schreie und Kreischen vom Flur in
den Raum.
Als die Schreie nicht aufhören, wird die Patientin immer unsicherer, ob sie
fortfahren soll. Schließlich verlässt die Psychiaterin den Raum, die
Patientin bleibt mit der Kamera zurück. Vom Flur dringen durch die Tür
gedämpft Stimmen. Das Schreien verstummt schließlich.
Etwas später kehrt die Psychiaterin zurück, die Augen der Patientin wirken
fragend, doch die Psychiaterin wechselt mit einem kurzen „Also?“ zurück in
das Gespräch. Nach kurzem Zögern greift die Patientin den Faden der
Erzählung wieder auf. Unvermeidlich prallen in der psychiatrischen Arbeit
Welten aufeinander. Die der Patient:innen, die der Betreuenden und immer
wieder auch die eines medizinischen Systems, das zunehmend stärker nach
betriebswirtschaftlichen Logiken handelt.
Schon jetzt lässt sich absehen, dass die Filme von Philiberts
Psychiatrie-Trilogie auf Jahre hinaus Bestand haben werden. Zum einen wegen
der Zugewandtheit, mit der der Regisseur den Menschen in den Institutionen,
die er porträtiert, begegnet und die – zum anderen – die Komplexität erst
möglich macht, mit der er das System der französischen oder doch der
Psychiatrie in Paris zeigt. Ein System, das um jeden Rest von Freiheit
kämpfen muss, das unterbesetzt und unterfinanziert ist.
## Sprechen statt ‚Pillen nach Plan‘
Eine Patientin benennt die Schwachstellen, die schon heute existieren:
„Manchmal sagen die Pfleger:innen, dass sie keine Zeit haben, weil sie zu
viel Arbeit haben. Sie sind unterbesetzt. Wenn es mehr Pfleger:innen
gäbe, könnten sie vielleicht manchmal Zeit finden, mit uns zu sprechen,
statt uns ‚Pillen nach Plan‘ zu geben.“ Und einer der Psychiater kommt in
einem der Betreuer:innen-Patient:innen-Treffen im Gewächshaus auf die
Versuche zu sprechen, ohne psychiatrische Kliniken auszukommen.
Philiberts Filme werfen all diese Fragen auf und zeigen zugleich die
Bemühungen der Betreuer:innen, ihren eigenen Ansprüchen und den
Patient:innen gerecht zu werden. Sie zeigen das Ringen der
Patient:innen mit dem System und sich selbst und deren Empathie für die
Zwänge der Betreuer:innen. Wie „Auf der Adamant“ richtet auch „Averroès…
Rosa Parks“ den Blick auf ein soziales und medizinisches System, das selten
im Fokus der Aufmerksamkeit steht.
Wie im Denken und Handeln der Namensgeber:innen der Wohneinheiten, dem
arabisch-andalusischen Gelehrten Ibn Ruschd/Averroès und der Schwarzen
Bürgerrechtlerin Rosa Parks, verbinden sich in den psychiatrischen
Ansätzen, die Philibert ins Zentrum seiner Filme rückt, Menschlichkeit,
Zugewandtheit und Widerständigkeit. Seine Filme sind nicht zuletzt
filmische Würdigung des Beharrens auf diesen Werten.
24 Jul 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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Paris
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