# taz.de -- Französischer Film „Gagarin“ im Kino: Die letzten Tage der Cit… | |
> Zerstörte Hoffnungen, verlorene Heimat: Der Spielfilm „Gagarin – Einmal | |
> schwerelos und zurück“ erzählt vom Abriss einer Neubausiedlung bei Paris. | |
Bild: In der Cité Gargarine wird eine Sonnenfinsternis beobachtet | |
Akribisch vermerkt Yuri den Zustand der Neonröhren und später der gesamten | |
Elektrik in seinem Wohnblock. Gemeinsam mit seinem Freund Houssam versucht | |
er auf eigene Faust, das Gebäude so gut es geht in Schuss zu bekommen, | |
bevor eine offizielle Begehung darüber entscheidet, ob der Wohnblock | |
gemeinsam mit der gesamten Siedlung abgerissen wird. | |
Seit er geboren wurde, lebt Yuri in den roten Backsteingebäuden der Cité | |
Gagarine in Ivry-sur-Seine südöstlich von Paris. Er kennt jeden in der | |
Wohnsiedlung, wie sie ist er benannt nach dem sowjetischen Kosmonauten Juri | |
Gagarin, der als erster Mann im Weltall Menschen beiderseits des Eisernen | |
Vorhangs begeisterte. | |
Letztlich können Yuri und Houssam trotz der Hilfe durch die junge Diana | |
nicht verhindern, dass der Abriss der Wohnsiedlung beschlossen wird. | |
„Gagarin“ ist das Langfilmdebüt des französischen Regieduos Fanny Liatard | |
und Jérémy Trouilh. | |
2020 wurde die reale Cité Gagarine abgerissen. Die Siedlung war parallel zu | |
ihrer Schwestersiedlung der Cité Maurice-Thorez Anfang der 1960er Jahre | |
errichtet worden, mitten in der damaligen Wohnungskrise, die parallel zur | |
Dekolonisierung Frankreichs grassierte. Viele dieser Siedlungen sind | |
unterdessen in die Jahre gekommen. Im Lagerhaus eines Schrotthändlers | |
entdecken Yuri, Houssam und Diana eine Kiste mit Schildern ehemaliger | |
Wohnsiedlungen, die bereits abgerissen wurden. „Es ist wie ein Friedhof für | |
Gebäude.“ | |
## Experiment Einsamkeit | |
Als der Abriss der Gebäude konkret wird, leeren sich die Wohnungen | |
allmählich, die Gemeinschaft der Mieter:innen zerstreut sich in alle | |
Winde. Yuri harrt aus, ebenso wie der Kleindealer Dali. Zunächst, um | |
abzuwarten, bis seine Mutter, die mit ihrem neuen Liebhaber verreist ist, | |
zurückkehrt; und als diese ihm in einem Brief, dem ein paar Geldscheine | |
beigelegt sind, mitteilt, dass sie nicht wiederkommt, bleibt er dennoch. | |
Als die Abbrucharbeiten weiter voranschreiten, besinnt sich Yuri, ganz im | |
Geiste seines Namenspaten, auf seine Begeisterung für den Weltraum. | |
Angeregt von Videos von Astronauten, die die Einrichtung von Raumstationen | |
beschreiben, schafft er sich in dem leer stehenden Gebäude ein eigenes | |
Reich, baut bei Kunstlicht sein eigenes Gemüse an. Nachdem ihn seine Mutter | |
verlassen hat, sind die Gebäude der Cité Gagarine das Letzte, was Yuri von | |
seinem bisherigen Leben geblieben ist. | |
„Gagarin“ hätte 2020 auf dem Filmfestival in [1][Cannes Premiere feiern | |
sollen. Nachdem die Filmfestspiele pandemiebedingt abgesagt wurden], wurde | |
der Film dann auf dem Zurich Film Festival herausgebracht. 2016 hatten die | |
Filmemacher:innen aus dem Stoff bereits einen Kurzfilm mit dem | |
gleichen Titel gemacht. Das Projekt begann schon 2014, als befreundete | |
Architekt:innen die beiden Filmemacher:innen baten, vor dem Abriss | |
der Cité Gagarine einige Bewohner:innen filmisch zu porträtieren. | |
Wie bei den meisten Neubauprojekten um Paris waren auch die Menschen in | |
Gagarine daran gewöhnt, dass sie und ihre Wohnsituation oft medial | |
ausgeschlachtet wurden. Sie standen Liatard und Trouilh deshalb zunächst | |
skeptisch gegenüber. Eine Nachbarschaftsinitiative von Frauen öffnete den | |
beiden schließlich Zugänge. Die Gruppe fand in zwei Szenen – beim Joggen im | |
Hof und dem Tanzen auf dem Dach – Eingang in den Film. Anschließend | |
entstanden unzählige Filmaufnahmen, in denen sich die Bewohner:innen | |
der Siedlung erinnern. | |
## Die dokumentarische Basis fehlt | |
Leider ist diese Vorgeschichte, sind die dokumentarischen Vorarbeiten und | |
die Erfahrungen der Bewohner:innen, von denen man einen kurzen Eindruck im | |
Abspann bekommt, in der Fiktionalisierung weitgehend verloren gegangen. | |
Statt auf dokumentarische Einflüsse setzen Fanny Liatard und Jérémy Trouilh | |
zuerst auf eine Beschwörung der Hausgemeinschaft und dann auf magische | |
Bilder von Yuris selbstgebauter Überlebenskapsel im zunehmend leeren Kosmos | |
des Wohngebiets. In einem Interview im Pressematerial beziehen sich die | |
beiden auf den magischen Realismus des südamerikanischen Kinos. | |
Bisweilen wird über die fortwährende Beschwörung der Magie die dünne | |
Geschichte eines zum Langfilm ausgewalzten Kurzfilms sichtbar, dessen | |
Narration vor allem durch eine Romanze zwischen Yuri und seinem Schwarm | |
Diana ergänzt wurde. Doch dann dringt ganz am Ende doch noch so etwas wie | |
Realismus in den Film und trägt ihn bis zum Schluss. | |
Filme über Jugendliche in den Neubaugebieten sind seit vielen Jahren ein | |
Dauerbrenner im französischen Kino von [2][Mehdi Charefs „Tee im Harem des | |
Archimedes“ (1985)] über Mathieu Kassovitz’ „Haß“ (1995) bis zu Émil… | |
Carpentiers „Horizont“ (2021), der den Kampf gegen Umweltzerstörung unter | |
Jugendlichen zeigt. „Gagarin“ mag in der Narration bisweilen etwas | |
durchhängen, macht das aber durch Charme und den Versuch wett, das | |
abgerissene Wohnviertel und seine Bewohner:innen voller Würde und | |
Leben zu zeigen. | |
13 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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