| # taz.de -- Die Fotografie von Tyler Mitchell: Träume in Bildern | |
| > Menschen, die sorglos in den Tag hinein leben und doch im krassen | |
| > Missverhältnis zu unserer Welt stehen: US-Fotograf Tyler Mitchell im C/O | |
| > Berlin. | |
| Bild: Jugendliches Spiel, das mancherorts zum Verhängnis werden kann: „Wish … | |
| Berlin taz | Manche Fotografien zeigen die Welt nicht so, wie sie ist, | |
| sondern wie sie sein könnte. Eine Sphäre des Möglichen, dargestellt mit | |
| nichts als Wirklichkeitsfragmenten. Diesen Geist der Utopie atmen Tyler | |
| Mitchells Foto- und Videoarbeiten, die derzeit in seiner ersten | |
| Einzelausstellung in Deutschland unter dem Titel „Wish This Was Real“ in | |
| der [1][C/O Berlin Foundation] zu sehen sind. | |
| Mitchells Werke, bekannt durch seinen Bildband „I Can Make You Feel Good“ | |
| (2020), zeigen auf den ersten Blick Wunschlandschaften von träumerischer | |
| Schönheit. Bewohnt sind diese Szenerien von Menschen, die sorglos in den | |
| Tag hinein leben. Ein Idyll unter freiem Himmel, das Utopia als nirgendwo | |
| eindeutig lokalisierbaren Sehnsuchtsort und zugleich als allgemeine, | |
| überall mögliche Gegend vorstellt. Diese Bilder kommen ohne politisches | |
| Programm aus, ohne belehrenden Gestus. Und doch stehen sie, hoch politisch, | |
| im krassen Missverhältnis zu unserer Welt. | |
| Auf den zweiten Blick erst, oder bei der Lektüre der Begleittexte, fällt | |
| ins Auge, dass in den Werken ausschließlich Schwarze Menschen oder People | |
| of Color abgebildet sind und dass ihnen bisweilen die Luft zum Atmen | |
| genommen wird. In der titelgebenden Videoarbeit („Whish This Was Real“, | |
| 2015) spielen einige Jugendliche mit Wasserpistolen. Die weichen Stoffe | |
| ihrer Wollpullis und der rosa-blaue Hintergrund wirken wie [2][eine queere | |
| Hip-Hop-Szene], der man gerne zuschauen möchte. Liest man die Erklärung | |
| dazu, fällt ein düsterer Schatten über die vermeintliche Sorglosigkeit: Das | |
| Video verweist auf den 12-jährigen Tamir Rice, der, mit einer | |
| Airsoftpistole hantierend, von einem Polizisten erschossen wurde. | |
| Trotz der Schwere, die Themen wie Rassismus und Polizeigewalt, soziale | |
| Ausgrenzung und Anpassungsdruck bereiten und die Mitchells Arbeiten | |
| durchziehen, kreiert dieser Künstler eine Welt von beeindruckender | |
| Leichtigkeit. Mitchell spricht von einem Optimismus seiner Bilder – | |
| allerdings ein Optimismus, der einen Schlag in die Magengrube bedeutet. So | |
| wirft sein Bildwerk Fragen auf: Wie könnte eine Welt aussehen, in der alle | |
| Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe oder Herkunft, ihrer Identitäten oder | |
| angeblicher Leistungen, glücklich sein können? Ein Universalismus, in dem | |
| Abweichungen, Andersartigkeit und Versponnenheiten nicht durchgestrichen | |
| werden? Mitchells Bilder geben keine theoretische Antwort und sind deshalb | |
| auch kein Beitrag zur hitzigen Debatte über Identitätspolitik, sondern eine | |
| leise, flüchtige Vorahnung, wie sich ein solcher Zustand anfühlen könnte. | |
| ## Ein humaner Zustand wird in den Bildern spürbar | |
| Da sind drei Kids, die mit Skateboard und Einkaufswagen durch ein etwas | |
| heruntergekommenes Stadtquartier preschen („Motherlan Skating“, 2019) – | |
| kein sportlicher Wettstreit, sondern zielloses Spiel, das mit der | |
| unaufdringlich wuchernden Vegetation harmoniert. Da sind die schönen Hände | |
| einer älteren Frau, mit Goldringen besetzt und stolz ein kleines | |
| Familienfoto der Kinder oder Enkel präsentierend („The Root Of All That | |
| Lives“, 2020). Da sind zwei menschliche Silhouetten in liebevoller Pose, | |
| durch ein blaues Laken auf einer Wäscheleine im Abendlicht durchscheinend | |
| („Blue Laundry“, 2019). | |
| Menschlichkeit wird hier nicht sonntagsredenhaft beschworen. Vielmehr ist | |
| ein humaner Zustand spürbar in den Bildern, gerade weil sie so unscheinbar | |
| und flüchtig daherkommen, fluide wie die omnipräsenten Textilien in den | |
| Arbeiten. Manche sind sogar auf Seiden- oder Baumwollstoffe gedruckt und | |
| kulissenhaft drapiert. | |
| Das Material passt zum Künstler. Mitchell reüssierte auch als Mode- und | |
| Starfotograf, [3][unter anderem lichtete er Beyoncé für die Vogue ab]. Ein | |
| wenig wirkt seine Kunst tatsächlich wie Reklame. Zwei junge Männer in | |
| schicken Anzügen („Topanga II“, 2017) würden ein gutes Plakat für einen | |
| angesagten Herrenausstatter abgeben. Doch Mitchells Werke sind listiger, | |
| als es scheinen mag. Sie zeigen nämlich nicht einfach einen Abklatsch der | |
| Werbeindustrie, sondern weichen auf vielfältige und doch nicht immer leicht | |
| zu identifizierende Weise von bloßer Werbung ab. | |
| Die Gesten der Modelle sind zarter, manche auch unverschämter. Das gezeigte | |
| Glück bleibt im Ungefähren und undefinierbar, Produkte verkaufen lassen | |
| sich damit nicht, zumal die Bilder auf keine zu erwerbenden Waren | |
| verweisen. Dieser Ausbruchsversuch aus der Werbung mit ihren eigenen | |
| Mitteln führt in ein anarchisches Niemandsland zwischen Kunst und Kitsch, | |
| zwischen sogenannter Hoch- und Alltagskultur. Als New Black Vanguard wird | |
| dieser Stil bezeichnet. | |
| Besonders beeindruckend ist das Bild einer jungen Dame in schillerndem | |
| Gewand („Ugbad in Flower Bush“, 2018). Ihre Augen sind bedeckt wie die der | |
| Justitia, allerdings mit Blumen, nicht von einer Binde verschnürt. | |
| Kulturgeschichtlich ist es eine späte Idee, dass es ausgerechnet in der | |
| Rechtsprechung gerechter zuginge, wenn beim Urteil (oft Verurteilung) die | |
| Person und ihre Umstände nicht angesehen werden, wo doch sonst allenthalben | |
| die Umstände das Schicksal einer Person bestimmen. | |
| In Ansehung individueller Gegebenheiten, abgesehen aber von eigenen oder | |
| allgemeinen Ressentiments Urteile zu fällen: Wäre nicht dies die | |
| erstrebenswerte Form gerechter Rechtsprechung? Unter den gegebenen | |
| Umständen jedenfalls zementiert abstrakte Gleichheit die reale | |
| Ungleichheit. | |
| „Die Binde über den Augen der Justitia bedeutet nicht bloß, daß ins Recht | |
| nicht eingegriffen werden soll, sondern daß es nicht aus Freiheit stammt“, | |
| wie es in der „Dialektik der Aufklärung“ heißt. Das Modell auf Mitchells | |
| Bild wirkt indes wie eine vielfarbige Raupe, deren Metamorphose zum | |
| Schmetterling sich bereits andeutet. Vielleicht hat sie die Augen und Ohren | |
| verschlossen, weil sie dieser warnenden Sinnesorgane nicht mehr bedarf. | |
| Eingewoben in einen Kokon kann sie Träumen nachsinnen von einer besseren, | |
| gerechteren, glücklicheren Welt. | |
| Erinnern mögen Mitchells Arbeiten an jenen berühmten Traum, den Martin | |
| Luther King im August 1963 am Lincoln Memorial in Washington, D. C., | |
| verkündete, der in seiner Verwirklichung jedoch jäh steckenblieb. Solange | |
| der Traum nicht Wirklichkeit geworden ist, wird er weiter geträumt, etwa | |
| als [4][Amanda Gorman] 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden und Kamala | |
| Harris ihr Poem [5][„The Hill We Climb“] rezitierte. | |
| Mitchell zeigt uns ähnliche Träume. Das aber sind keine bloßen | |
| Fantastereien. Vielmehr decken sie im erfahrbaren Wirklichen das Mögliche | |
| auf. Eine kritische Fantasie als „freischwebende, doch welttreue Utopie | |
| eigener Art“, wie Ernst Bloch es von Kunst als einer Ästhetik des | |
| Vor-Scheins sagte. Tyler Mitchells Bilder halten diese Utopie lebendig, | |
| wie ein Echo aus einer unbestimmten, ortlosen Zukunft, gebrochen an der | |
| vielfältig zerklüfteten Zeit zwischen Traum und Wirklichkeit. | |
| 13 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Mettin | |
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