| # taz.de -- Wert von Fotos: Mach dir ein Bild! | |
| > Die Lücke zwischen Beobachtung und Beobachter: Theodor M. Bardmann fragt | |
| > in einem monumentalen Werk nach dem strukturellen Wert von Fotografien. | |
| Bild: Sprechende Bilder: Modefotografie von 1928 | |
| Kann man über Fotografien schreiben, ohne ein einziges Foto zu zeigen, ein | |
| einziges Foto zu diskutieren, mit einem einzigen Foto den Beweis für die | |
| eigenen Thesen anzutreten oder auch nur mit einem einzigen Foto deutlich zu | |
| machen, dass man auf Fotos immer auch sieht, was der Blick der | |
| Fotograf:innen nicht ausgewählt hat? | |
| Man kann. Theodor M. Bardmann, Professor für Medienkommunikation an der | |
| Hochschule Niederrhein, hat ein vierbändiges Mammutwerk über „Die Bilder | |
| der Gesellschaft. Fotografie und funktionale Differenzierung“ vorgelegt, in | |
| dem nicht nur kein einziges Foto zu finden ist, sondern, wenn ich nichts | |
| übersehen habe, dieser Umstand noch nicht einmal einen Hinweis oder eine | |
| Erläuterung wert ist. | |
| Stattdessen 2.700 Seiten bilderloser Text, ein Literaturverzeichnis von 200 | |
| Seiten, ein Sachregister von knapp 100 Seiten und kein Personenregister, | |
| obwohl in dem Werk eine Fülle von Autor:innen und Fotograf:innen | |
| verhandelt wird. Folgt Bardmann einem radikalen Bilderverbot? Ist die | |
| Enttäuschung einer selbstverständlich scheinenden Erwartung die erste und | |
| vielleicht auch eine der wichtigsten Botschaften der vier Bände (man traut | |
| sich kaum, von einem Buch zu sprechen)? | |
| Titel und Untertitel des Buches machen im Gegensatz zu diesem | |
| Bilderverzicht deutlich, worum es stattdessen geht. Bardmann orientiert | |
| sich an [1][Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie] und fragt nach dem | |
| strukturellen Wert von Fotografien für die Reproduktion der Gesellschaft | |
| und ihrer Teilsysteme. Er hält sich an jene Version der Theorie, die von | |
| der funktional differenzierten Moderne spricht, und belegt für [2][jedes | |
| Teilsystem dieser Gesellschaft] die Bedeutung und den Stellenwert von | |
| Fotografien. | |
| ## Funktionale Differenzierung | |
| Die Funktion von Fotografien besteht in deren Beitrag zu Strukturen, mit | |
| deren Hilfe sich die Systeme jeweils hoch selektiv reproduzieren. Fotos | |
| sind zum einen selbst Kommunikation, das heißt, sie teilen etwas mit, | |
| enthalten Information und sind unter diesen beiden Gesichtspunkten | |
| verständlich. Und sie unterstützen zum anderen die Kommunikation, indem sie | |
| Akzente setzen, Wertigkeiten unterstreichen und Unerwünschtes weglassen. | |
| Man könnte auch [3][von einer Feldtheorie der Fotografie, mit Pierre | |
| Bourdieu,] und einer Diskurstheorie der Fotografie, mit Michel Foucault, | |
| sprechen, würde dann aber der wichtigsten These des Buches, dem Beitrag des | |
| Fotos zur funktionalen Differenzierung, nicht gerecht. | |
| Fotos reproduzieren die (oft binären) Unterscheidungen dieser | |
| Funktionssysteme, indem sie eingrenzen und ausgrenzen, bewerten und | |
| abwerten. Fotos bebildern die Programme der Organisationen in diesen | |
| Funktionssystemen, indem sie sichtbar machen, worin die wichtigsten | |
| Leistungen ihrer Akteure und die typischen Eigenschaften ihrer Klienten | |
| bestehen. | |
| Und wie nebenbei repräsentieren Fotos jene Wirklichkeit, die vorausgesetzt | |
| wird und mitläuft, während sich ein System inszeniert. Kein Foto kann so | |
| umfassend kontrolliert werden, dass es nicht auch etwas zeigt, was nicht | |
| gesehen werden soll. Fotos sind verräterisch, entsprechen aber auch darin | |
| einem gesellschaftlich eingeübten, zur Reproduktion des Ganzen beitragenden | |
| Blick. | |
| ## Luhmanns Lücke ausfüllen | |
| Enzyklopädisch würdigt Bardmann alle bekannten und auch weniger bekannte | |
| Funktionssysteme unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauchs von Fotos. Immer | |
| wieder lässt er sich auf Details ein, die keinem vorab entschiedenen Schema | |
| genügen, etwa wenn Modefotos Fetischismen bedienen, Familienfotos sich mit | |
| Sterblichkeit auseinandersetzen oder die Unergründlichkeit von | |
| Wissenschaftsfotos den Anspruch empirischer Evidenz unterläuft. | |
| Ein Opus-Magnum-Stipendium der Volkswagenstiftung hat es dem Autor | |
| ermöglicht, viele Jahre darauf zu verwenden, ein Manko zu korrigieren, das | |
| er im Werk von Luhmann entdeckte. Bei Luhmann gibt es keine Fotografien. | |
| Luhmann entwickelt eine Kommunikationstheorie, die über die Macht der | |
| Bilder keine Auskunft gibt. | |
| Auch darin liegt eine Pointe des hier geübten Bilderverzichts. Bardmanns | |
| Werk ist eine Textwüste, wie Luhmanns Bücher Textwüsten sind, aber wenn | |
| Luhmanns Leistung darin besteht, die Komplexität gesellschaftlicher | |
| Operation und Strukturen zu veranschaulichen, indem deutlich wird, dass es | |
| von ihnen keine Anschauung gibt, besteht Bardmanns Leistung darin, der | |
| Leserin vor Augen zu führen, wie bildhaft unser Verständnis | |
| gesellschaftlicher Wirklichkeit immer schon ist. | |
| Es genügen knappe Bemerkungen im Text, zuweilen ausführlichere | |
| Beschreibungen in den Fußnoten, um Erinnerungen an Fotos aufzurufen, die | |
| man entweder schon gesehen hat oder sich auf eine erstaunlich, vielleicht | |
| sogar erschreckend leichte Weise vorstellen kann. | |
| ## Ein Bild dieser Gesellschaft | |
| Bardmanns Arbeit ist Luhmanns Werk darin kongenial, dass man sich | |
| unwillkürlich fragt, mit welchen Sinnen man eine Vorstellung von der | |
| Gesellschaft und ihrer kommunikativen Komplexität gewinnen zu können | |
| glaubt. Ein Bild dieser Gesellschaft, ein Gehör für ihren Tonfall, ein | |
| Geschmack ihrer Faszination, der Geruch ihrer Erregung, sogar die Berührung | |
| ihrer neuralgischen Punkte sind Metaphern. Aber auch diese Metaphern | |
| beteiligen sich an ihrer Kommunikation. | |
| Ganz nebenbei wird eine Bildtheorie entwickelt, die sich von der | |
| Kunsttheorie ebenso wie von der Technikgeschichte der Fotografie bis zur | |
| Digitalisierung inspirieren lässt, um dennoch auf dem soziologisch | |
| entscheidenden Punkt zu beharren, dass es darauf ankommt zu fragen, wie und | |
| was Bilder kommunizieren. | |
| Sie sind eine Beobachtung, und sie rechnen mit Beobachtern. In die Lücke | |
| zwischen beidem fällt eine Wirklichkeit, die schlicht und ergreifend da | |
| ist, gleichgültig, wer welchen Anspruch auf sie erhebt. Sie kann studiert | |
| werden, [4][wie Roland Barthes gezeigt ha]t, sie kann den Beobachter aber | |
| auch überraschen (Barthes’ punctum). | |
| Bilder testen die sozialen Systeme, die sich mit ihnen zu behaupten | |
| versuchen. Sie sind umso aufregender, wenn sie sich diesen Systemen nicht | |
| etwa romantisch entziehen, sondern Aspekte aufzeigen, die jeder anderen | |
| Wahrnehmung, der Sprache, der Formel, der Musik oder dem Film, verschlossen | |
| sind. | |
| Bardmann berücksichtigt Gebrauchsfotos ebenso wie künstlerische Fotos, doch | |
| in beiden Fällen geht es ihm um das Foto auf der Kippe zwischen System und | |
| Umwelt, um das riskante Bild, dem es wie im letzten Moment gerade eben noch | |
| gelingt, seinem Thema treu zu bleiben. | |
| ## Weitere Forschungsfelder | |
| Es bleibt nicht aus, dass eine so umfassende Theoriefolie, wie sie Luhmanns | |
| Arbeiten bieten, nicht in jeder Hinsicht ausgenutzt werden kann. Man könnte | |
| Fotografien auch zeittheoretisch, konflikttheoretisch, medientheoretisch, | |
| mit Fritz Heider, oder formtheoretisch, mit George Spencer-Brown, lesen, | |
| und nicht zuletzt könnte man sich fragen, ob Fotografien nicht ein guter | |
| Beleg dafür sind, dass wir es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr | |
| mit der modernen Gesellschaft und ihren Funktionssystemen, sondern mit | |
| einer nächsten Gesellschaft und deren elektronischen Medien und Netzwerken | |
| zu tun haben. | |
| Immerhin ist jedes Foto abgesehen von seiner thematischen Engführung immer | |
| auch das Dokument einer Konstellation strikt heterogener Sachverhalte. Und | |
| immerhin steht kaum etwas riskanter und prekärer auf der Schwelle zwischen | |
| analogem Bild und digitaler Bearbeitung als die Fotografie. Aber auch zu | |
| diesen Aspekten finden sich Fußnoten und Querverweise, mit denen Bardmann | |
| jenen Spuren nachgeht, die nicht unbedingt ins Schema der funktionalen | |
| Differenzierung passen. | |
| Die vier Bände sind ein beeindruckendes Nachschlagewerk zum Verständnis der | |
| Funktionssysteme und des fotografischen Niederschlags, den sie erzeugen, | |
| wie auch ein Lehrbuch zur Frage, wie zu fotografieren ist, was sich in der | |
| Verkettung von Kommunikation nach wie vor nicht zeigt. | |
| Immer wieder muss man sich fragen, ob unser fotografisches Verständnis der | |
| Gesellschaft und ihrer Funktionssystemen voraus- oder hinterhereilt. In | |
| jedem Fall jedoch fasziniert, dass sich dem theoretisch informierten Blick | |
| zeigt, wie gesellschaftlich befangen jedes Foto ist. Dazu muss ich kein | |
| einziges Foto gesehen haben, werde mir aber in Zukunft jedes anders | |
| anschauen. | |
| 21 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dirk Baecker | |
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