# taz.de -- Fotografiefestival in Arles: Ironie ist eine Strategie | |
> „Les Rencontres d’Arles“ stehen im Zeichen der Krisen, auch der | |
> Wahlergebnisse in Frankreich. Dennoch findet das Fotografiefestival eine | |
> Leichtigkeit. | |
Bild: Postermotiv: Cristina De Middel, „An Obstacle in the Way“, aus: „Jo… | |
Im Café de la Roquette in Arles sind an diesem Sommerabend alle Tische | |
besetzt. Es ist der erste Wahltag der vorgezogenen Parlamentswahlen in | |
Frankreich. Noch plaudern die jungen Arlésiens und Arlésiennes entspannt | |
bei Bier und Ricard. Dann, um 20 Uhr, die ersten Hochrechnungen: Die | |
rechten Lepenisten liegen mit großem Abstand vorne, in Arles selbst erhielt | |
der RN-Kandidat Emmanuel Tache sogar 47,8 Prozent der Wählerstimmen. | |
Das sind beinahe 20 Prozentpunkte mehr als der Kandidat der kommunistischen | |
Partei, Nicolas Koukas, erhalten hat, gegen den Tache am kommenden Sonntag | |
in die Stichwahl gehen wird. Auf einmal ist die Atmosphäre auf dem Platz | |
gedrückt, die Stimmen sind leiser geworden. | |
Von dem immer weiter zunehmenden Rechtsruck in Frankreich ist jedoch bei | |
den jetzt beginnenden Rencontres d’Arles nicht viel zu merken. Der Etat des | |
wichtigen, internationalen Fotografiefestivals sei zwar gesunken, aber dank | |
privater Förderer sei man nicht nur auf staatliche Gelder angewiesen, so | |
Christoph Wiesner. Der Museologe Wiesner aus Gemünden am Main leitet seit | |
2020 [1][die Rencontres]. Die 55. Ausgabe des 1970 gegründeten Festivals | |
trägt den Titel „Beneath The Surface“. Wiesner spricht von den sich | |
„überlagernden Erzählungen unter einer gerade immer poröser werdenden | |
Oberfläche der Selbstverortung und Identitätssuche“. | |
An vielen Stellen der diesjährigen Rencontres geht es um die Bewältigung | |
gegenwärtiger Krisen. Es geht um Migration, um die Geschichte des | |
Kolonialismus oder um die Folgen des Klimawandels. Viele Künstler:innen | |
nutzen Humor als Strategie, um den schweren Themen zu begegnen. | |
## Der Blick zurück auf eine verlorene Heimat | |
Wie die 1975 in Spanien geborene Fotografin Cristina de Middel. In ihrer | |
Installation „Journey to the Center“, in der Kirche der Frères Prêcheurs | |
aus dem 15. Jahrhundert zeichnet die in Mexiko und Brasilien lebende | |
Fotografin die Migrationsroute von dem Ort Tapachula im Süden Mexikos nach | |
Felicity nach, einer kleinen Stadt in Kalifornien. Geografisch gilt | |
Felicity als „Zentrum der Welt“. Mit ironischen Einblicken auf beiden | |
Seiten der Mauer zeigt de Middel, wie absurd es doch ist, den Ort mit solch | |
einem Slogan auch für den Tourismus zu bewerben. | |
Dafür kombiniert sie Dokumentarfotografie und Archivmaterial, arbeitet | |
visuell mit Stereotypen, die sie dann ironisierend wieder dekonstruiert: | |
Eine [2][junge Mexikanerin steht vor dem Grenzzaun] in einem T-Shirt mit | |
übergroßem rosafarbenen Trump-Gesicht, ein Mann mit verwischten | |
Gesichtszügen trägt ein Superman-Kostüm mit der Trump-Parole „Mexico Will | |
Pay“. Oder eine meterhohe Madonnenfigur wird auf dem Dach eines Kleinwagens | |
samt verschiedener Habseligkeiten transportiert. Auf der anderen Seite ist | |
die Leuchtreklame einer US-amerikanischen Kirche zu sehen, mit der | |
Erklärung „The Door to New Life Is Open“. | |
Das diesjährige Festivalplakat zeigt de Middels Arbeit „An Obstacle in the | |
Way“ (Una Piedra en el Camino): eine Frau mit grauem Haar in einem lang | |
geflochtenen Zopf, die bis zu den Knien in einem See steht. Den Blick | |
zurück gerichtet auf eine verlorene Heimat. Sie wirkt in Erinnerungen | |
versunken. Es ist ein sehnsuchtsvolles, sehr intimes Bild, zärtlich und | |
verletzlich. | |
## Eine Variante europäischer Gartenzwerge | |
Kurios kommt in Arles die erstmals 2016 in Neu-Delhi ausgestellte Serie | |
„Everyday Baroque“ des 1954 geborenen indischen Fotografen Rajesh Vora | |
daher. Sie dokumentiert Ferienhaussiedlungen von „Non-Resident-Indians“ | |
(NRI) in Punjab. Die in der Diaspora lebenden Inder kommen nur in den | |
Ferien dorthin und haben auf ihren Häusern in stolzer Pose | |
überdimensionierte Gipsfiguren aufgestellt, in aberwitzigen Formen von | |
Maruti-Pkws, Traktoren, Panzern, Schiffen mit amerikanischer Flagge, | |
Boeings oder einer meterhohen Whiskeyflasche. Eine Variante europäischer | |
Gartenzwerge. Das wirkt bizarr, surreal und humorvoll. | |
Als absurde Monumente des Unwiederbringlichen wirken dagegen die nur noch | |
als Reste aus dem Wasser ragenden Bauwerke in der Serie „A Fates Brief | |
Memoir“ des 1982 in Indien geborenen Fotografen Paribartana Mohanty, der in | |
Lentikularbildern Orte dokumentiert, die durch den Klimawandel im Meer | |
versunken sind. | |
Der 1984 in Berlin geborene Fotograf Bruce Eesly montiert in seiner Serie | |
„New Farmer“ Werbefotografien für Landwirtschaftsmagazine aus den 1960er | |
Jahren, die mit der „Green Revolution“ mit genmanipuliertem Gemüse für | |
bessere Ernten warben, mit KI-Bildern mit ins Monströse vergrößerten | |
Brokkoli oder Gurken. | |
Befremdlich wirken auch die Modeaufnahmen für US-amerikanische Uniformen | |
des Archivs des Natick Soldier Systems Center von 1960 bis 1990. Sie | |
bewerben stilvolle Ausrüstungen für Kriegsgebiete, Mondlandungen oder | |
Atomkatastrophen. Die [3][kathartische Theorie des Humors] vertrat schon | |
Sigmund Freud. Ob sie auch hilft, der Sorge vor einer Regierungsbeteiligung | |
des RN im französischen Parlament zu begegnen? | |
2 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Maxi Broecking | |
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