Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fotograf Michael Ruetz: Das Unsichtbare erfassen
> Der Fotograf Michael Ruetz zeigte in seinen Arbeiten Motive über einen
> langen Zeitraum, zuletzt in der Akademie der Künste in Berlin. Nun ist er
> im Alter von 84 Jahren verstorben.
Bild: Michael Ruetz aus: „Timescape 312“, 312.10 October 26 2002 14:48 h, S…
Am Montag ist der Berliner Fotograf Michael Ruetz im Alter von 84 Jahren
verstorben. Zu diesem Anlass haben wir diese Rezension, die am 19. Juni
2024 zu seiner Ausstellung „Poesie der Zeit“ in der Akademie der Künste in
Berlin erschienen ist, nochmals auf taz.de publiziert.
Die letzte Aufnahme der „Timescapes“ wurde am Montag, den 28. August 2023
um 10.33 Uhr am Aufnahmeort N 52°31.010' E 13° 22.779' gemacht. Die Kamera
blickte in Richtung SW 208°, sie fokussierte auf das Brandenburger Tor.
„Timescape“ ist ein von [1][Michael Ruetz] in Anlehnung an die Landscape
geprägtes Kunstwort und bezeichnet eine über viele Jahre entstandene Folge
von Fotografien, die immer am selben Ort das gleiche Motiv zeigen, das sich
im Lauf der Zeit allerdings auch verändern oder ganz verschwinden kann.
Gleich bleiben neben dem Standort und der Blickachse die Optik der Kamera,
die Aufnahme in Schwarz-Weiß und parallel dazu in Farbe. Flexibel sind
dagegen die zeitlichen Abstände, in denen Michael Ruetz einen Ort immer
wieder aufsucht.
Das Brandenburger Tor ist Teil der Serie „Timescape 162, Pariser Platz,
Berlin-Mitte, 1991–2023“, die jetzt in der Ausstellung „Poesie der Zeit�…
der Akademie der Künste eben am Pariser Platz zu sehen ist. Die erste
Aufnahme der leeren Mitte Berlins entstand am 4. Februar 1991 um 17.30 Uhr,
als es bereits dunkel war. Die zweite Aufnahme, fünf Jahre später am 1.
Februar 1996 um 13.10 Uhr, zeigt bildfüllend zwei hölzerne Kabeltrommeln,
die den Blick auf das Wahrzeichen versperren, von dem nur noch die Quadriga
zwischen den Trommeln hervorragt. Zwei Jahre später, am 15. April 1997 um
12.44 Uhr, ist die leere Mitte ein großer Bauplatz geworden.
Die Ahnung eines städtischen Platzes vermittelt dann das Foto vom 13. April
2002 um 11.08 Uhr. Das Tor hat inzwischen wieder seine beiden Torbauten und
am linken Bildrand ist bereits die Bastion der amerikanischen Botschaft zu
sehen. 2007, 26. Juli um 13.46 Uhr: Jetzt kann man vom Pariser Platz
sprechen. 16 Jahre später, bei der letzten Aufnahme, sieht der Platz – wie
könnte es in Berlin auch anders sein – wieder nach Baustelle aus.
## Beobachtung der Veränderung
Die Fotografie, sagt Michael Ruetz, „ist eine perfekte Methode, wenn nicht
die einzige, nicht nur das Sichtbare zu erfassen, sondern zugleich das
Unsichtbare: die Zeit“. Das scheint ihm schon von Anfang an bewusst gewesen
zu sein. Denn schon Ende der sechziger Jahre, als der Doktorand im Fach
Sinologie [2][seine Aufnahmen von den Studentenprotesten] an Spiegel,
Stern, Time Magazine, Life und Paris Match verkaufen konnte und so in eine
große Fotografenkarriere abbog, legte er zu den belichteten Filmen
Archivkarten mit Filmnummer, Anlass, Ort und Datum an.
Auf dieser Grundlage entstand das fotografische Langzeitprojekt, in dem
Ruetz an 360 Orten in Deutschland und Europa den Wandel ländlicher und
städtischer Lebenswelten auf die beschriebene Weise festhielt. Jetzt
abgeschlossen, werden die Timescapes Teil des Michael-Ruetz-Archivs an der
Akademie der Künste.
Inzwischen füllt allein die Dokumentation viele Regalmeter, wie der dritte
Raum der klug konzipierten Ausstellung zeigt, in dem neben dem Kodachrome-
und Negativarchiv auch Arbeitsprotokolle, Lagepläne, Tagebücher und
Buchpublikationen sowie die Kameras, mit denen der Künstler gearbeitet hat,
ausgebreitet sind. Eingeleitet durch ein Video, in dem man Michael Ruetz
bei der Arbeit zuschauen kann, stehen Ruetz’ Berliner Zeitlandschaften im
Mittelpunkt der Ausstellung, die mit der Projektion der Timescape 817, „Die
absolute Landschaft“, endet. 23 Jahre lang überblickte Ruetz im Chiemgau
die von Bergen gesäumte Landschaft eines ausgedehnten Tals und
dokumentierte diese Sicht in 2.720 Aufnahmen.
## Orte der Macht
In Berlin sind es vor allem die ehemaligen Orte der Macht und des
städtischen Prestiges wie das Regierungsviertel, der Pariser Platz, der
Gendarmenmarkt oder die Straße Unter den Linden, die nach dem Fall der
Mauer eine rasante Umgestaltung durchlaufen. In diesem Umbau der Stadt
lassen sich, so der Katalogtext, „die Transformationen und tiefgreifenden
Wandlungen der deutschen Geschichte und Gesellschaft aufschlussreich
ablesen“.
Was aber bedeutet es dann, wenn im Timescape 312 aus dem Marx-Engels-Platz
der Schloßplatz wird und der [3][Palast der Republik] samt Weihnachtsrummel
dem Beton des im Wiederaufbau befindlichen Schlosses weicht? Wenn am Ende
„ein neues Berlin in den ästhetischen Grenzen von 1900 entsteht“, wie es
kürzlich so schön in der FAS hieß? Soll das, genauso wie der absolute
Leerstand der als Luxusmeile konzipierten [4][Friedrichstraße], wirklich
als Zustandsbericht zur gesellschaftlichen Lage Deutschlands gelesen
werden?
Oder soll man darin nicht eher die Hinterlassenschaften einer ebenso
benenn- wie überschaubaren Gruppe von Politikern und sogenannten
Developern, also Geschäftemachern, ideologischen Geschichtsrevisionisten,
Architekten und Immobilienheinzen erkennen, der man viel entschiedener
hätte entgegentreten müssen?
19 Jun 2024
## LINKS
[1] /Dokumentation-zum-9-November-1938/!5545576
[2] /Neuer-Bildband-zur-1968-er-Bewegung/!5525844
[3] /Theaterstueck-zum-Palast-der-Republik/!6008914
[4] /Flaniermeile-Friedrichstrasse/!5974743
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
Berlin Ausstellung
Ausstellung
zeitgenössische Fotografie
Zeit
Stadtentwicklung
Landschaft
Fotografie
taz Plan
taz Plan
Poesiefestival
zeitgenössische Fotografie
DDR
Berlin Ausstellung
Fotografie
## ARTIKEL ZUM THEMA
50 Jahre Galerie Kicken: Aus der Nische ins Licht
Seit 50 Jahren prägt die Galerie Kicken die Wahrnehmung von Fotografie als
Kunstform. Zum Jubiläum kuratierte Wilhelm Schürmann eine Ausstellung.
Die Kunst der Woche: Nicht in Schönheit zu sterben
Ellen Berkenblits kecke Frauen bei CFA, Gallis ungestüme Malerei im Palais
Populaire und Ikonen der Zeitgeschichte im Volkswagen Forum.
Die Kunst der Woche: Bilder Blühen, Bunker schrumpfen
Anna Steinert erfasst in ihrer Malerei das pflanzliche Sein des Sommers.
Andreas Mühes ergründet die Architektur und Geschichte europäischer Bunker.
25. Poesiefestival Berlin: Das größte Poesiefestival Europas
Vom 4. bis 21. Juli locken rund 150 Veranstaltungen beim 25. Poesiefestival
Berlin. Aus diesen Anlass: ein Gedicht von Oksana Maksymchuk.
Fotografiefestival in Arles: Ironie ist eine Strategie
„Les Rencontres d’Arles“ stehen im Zeichen der Krisen, auch der
Wahlergebnisse in Frankreich. Dennoch findet das Fotografiefestival eine
Leichtigkeit.
Fotografien aus der DDR: Vom Zonenrand zur Baumarkt-Moderne
Eine fotografische Langzeitstudie dokumentiert das thüringische Dorf Berka
von der frühen DDR bis heute. Sie ist in der Kunsthalle Erfurt zu sehen.
Ausstellung zum Fotografen Arno Fischer: Er war dabei, im Kalten Krieg
Hervorragend inszenierte Modefotos und ein Buch, das nie erschien: die
Überblicksschau des Fotografen Arno Fischer im Berliner Haus am Kleistpark.
Fotobuch zur Komischen Oper Berlin: Wundersame Readymades
Kurz vor deren Sanierung fotografierte Heidi Specker die Komische Oper
Berlin. Ihre Aufnahmen verführen dazu, die Geschichte des Hauses
mitzudenken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.