# taz.de -- Flucht in die USA: Äußerst begrenzt | |
> Geflüchtete, die via Mexiko in die USA wollen, sind einem apokalyptischen | |
> Hindernisparcours ausgesetzt. Über Entwurzelte und Engagierte entlang der | |
> Grenze. | |
Pastor Victor Hugo Sanchez sitzt hinter einem eisernen Schreibtisch und | |
empfängt Geflüchtete – nur wenige Hundert Meter Luftlinie von ihrem Ziel | |
entfernt, den Vereinigten Staaten. Er ist ein bulliger Mann, lange hat er | |
als privater Sicherheitsmann gearbeitet. Heute leitet er die [1][Herberge | |
La Esperanza] im Zentrum der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. | |
Insgesamt drei Dutzend Migrantenherbergen haben vor allem katholische und | |
evangelikale Gemeinden mittlerweile hier gegründet. Pastor Hugo zeigt auf | |
die große Fensteröffnung ohne Glas, nur mit Metallstäben vergittert. Davor | |
stehen zwei hagere Männer in ausgewaschener Kleidung. „Hier geben wir 24 | |
Stunden am Tag Essen aus.“ | |
Viele der Migranten hätten „eine Reise auf Güterzugdächern durch Mexiko | |
hinter sich“. Manche hätten die Mauer, die Mexiko von den USA trennt, | |
erklommen „und sich am Stacheldraht davor und dahinter Arme und Beine | |
aufgeschlitzt“. Oder sie seien aus großer Höhe abgestürzt und hätten sich | |
die Knochen gebrochen. | |
Im La Esperanza können sie sich ausruhen: Es gibt Zimmer mit weiß | |
gestrichenem Holzboden im ersten Stock, und im Jahr 2019, als | |
Migrant:innen aus Mittelamerika nicht mehr klandestin, sondern unter den | |
Augen der Weltöffentlichkeit in großen Trecks durch Mexiko Richtung Grenze | |
zogen, hat man die ehemalige Suppenküche für obdachlose Männer um | |
Schlafstätten für Geflüchtete erweitert. | |
„Unter Präsident Biden ist die Grenzmauer zwischen den Zwillingsstädten | |
Ciudad Juárez in Mexiko und El Paso in den USA mit unzähligen Rollen | |
Natodraht und zusätzlichen Maschendrahtzäunen unzugänglich gemacht worden“, | |
sagt Pastor Hugo. Ein apokalyptisch anmutender Hindernisparcours für | |
Zombies, so scheint es, nicht gemacht für Menschen aus Fleisch und Blut, | |
die schlicht überleben wollen und nur eine äußerst begrenzte Chance auf | |
Asyl haben. Aus der Pandemie ist Lateinamerika ärmer hervorgegangen, | |
Staaten wie El Salvador, Nicaragua und Paraguay sind autokratischer | |
geworden, und die Drogenkartelle haben Länder wie Haiti und Honduras | |
zersetzt. | |
So wurden dieses Jahr allein bis September 2,4 Millionen Geflüchtete an der | |
Grenze zu den USA gestoppt. Täglich überqueren aber auch Tausende | |
erfolgreich die Grenze. Auf dem US-Highway in El Paso direkt hinter dem | |
Wall blinken Tafeln: „Vorsicht vor plötzlich auftauchenden Personen auf der | |
Fahrbahn.“ Panzerfahrzeuge der Nationalgarde stehen bereit, diesseits | |
patrouilliert die mexikanische Militärpolizei in sandfarbenen | |
Mannschaftswagen. Sie erschoss im Oktober zwei Männer aus Guatemala, vier | |
weitere wurden nahe der Grenze durch Schüsse verletzt. | |
Schon im Juli hatte sich Ähnliches ereignet. Ehemalige Herbergenbewohner | |
seien nach Mexiko zurückgeschoben worden, berichtet Hugo. Es seien Männer | |
aus Nicaragua, Haiti oder Kuba gewesen – Ländern also, die keine | |
diplomatischen Beziehungen zu den USA unterhalten. | |
Haiti gilt gemeinhin als „Failed State“, Menschen fliehen dort vor Gewalt | |
und Korruption. Mit Venezuela nahmen die USA im Oktober wieder Beziehungen | |
auf – nicht zuletzt, um erneut unzählige Abschiebeflüge zu ermöglichen. In | |
der zweiten Novemberhälfte gingen insgesamt 30 Maschinen aus den USA nach | |
Venezuela und Mittelamerika. | |
Eine legale Einreise, die die Voraussetzung dafür ist, in den USA um Asyl | |
zu bitten, ist seit Mai nur noch über die [2][App CBP One des US-Zoll und | |
Grenzschutzes (CBP)] möglich. Der Asylzugang wurde unter Präsident Biden | |
komplett digitalisiert: Einen Termin zu einer ersten Anhörung kann man in | |
der App mit Standorterfassung nur direkt von den mexikanischen Grenzstädten | |
aus buchen. | |
Und diese Städte sind schwer zu erreichen. 2023 wurden in Mexiko mehr | |
Personen ohne Papiere festgenommen als je zuvor. Bis Oktober waren es | |
bereits über 500.000 – mehr als im gesamten Jahr 2022. Von Chiapas aus, | |
einem südmexikanischen Bundesstaat an der Grenze zu Guatemala, versuchten | |
Ende Oktober über 5.000 Personen gemeinsam in einer Karawane Richtung | |
Norden zu ziehen. Nach Verhandlungen mit der Migrationspolizei erhielten | |
Familien Transitpapiere; alleinreisende Männer tauchten ab. | |
Pastor Hugo schichtet Brennholz im Hof, gemeinsam mit dem kahlköpfigen, gut | |
gelaunten David, der im mexikanischen Bundesstaat Baja California erst zum | |
Drogenentzug und anschließend zur Kirche fand und nun rund um die Uhr die | |
erste Ansprechperson in der Herberge ist. Der Winter in der Wüste ist | |
eiskalt und die Sonne wärmt nur noch frühnachmittags. Im Gegensatz zu David | |
war Pastor Hugo immer clean. | |
Sein Vater hingegen hatte nach einer Straßenkindheit und einer | |
heroinabhängigen Jugend Jahre hinter Gittern verbracht. Sein Sohn lernte | |
ihn erst als Teenager kennen, da kam der Vater als geläuterter Mann zurück. | |
Fortan hatte er eine Mission: beispielhaft voranzugehen. Heute macht der | |
Sohn wie einst sein Vater als Prediger „Männerarbeit“ – im Gefängnis, im | |
Entzug, auf der Straße, für Menschen auf der Flucht hat er ein offenes Ohr. | |
Pastor Hugo kennt seine Stadt – mit all ihren Abgründen. | |
Auch an diesem kühlen Herbstmorgen sind die Bars offen an der Straße, wo | |
das Esperanza steht. Die rostrote Mauer zu den USA liegt nur drei Blocks | |
entfernt und ebenso die Grenzbrücke Santa Fe, die aus dem Zentrum von | |
Ciudad Juárez direkt nach Downtown El Paso, Texas, führt. Gegenüber dem | |
stadtbekannten Bordell Casa Roja steht ein weißes Gebäude, das in einem | |
Türmchen endet. | |
## Feiern mit Bundeswehrsoldaten | |
In dieser alten Villa ist das Nachtleben lange vorbei: Einst empfing die | |
Barbesitzerin Amparo Kluber Le Roy hier Bundeswehrsoldaten, die auf der | |
US-Militärbasis Fort Bliss stationiert waren. Mexikaner hatten keinen | |
Zutritt. Der Sohn der Besitzerin hat das Gebäude nach ihrem Tod entrümpelt | |
und einer evangelikalen Kirche geschenkt. | |
„Überall hier befinden wir uns im Herzen der Bestie“, erklärt der Pastor. | |
Das Viertel Bellavista ist das Epizentrum des Juárezkartells, berüchtigt | |
für Menschenhandel, Drogengeschäfte, Entführungen und Erpressung – auch von | |
Menschen auf der Flucht. „Auf ihrem Weg nach Norden sind Geflüchtete mit | |
allem konfrontiert – für die Kartelle und die Polizei sind sie ein | |
Geschäft.“ | |
Im Frühjahr 2023 berichteten Geflüchtete wiederholt der | |
Menschenrechtsorganisation Paso del Norte, von der Lokalpolizei in | |
Lagerhallen entführt, geschlagen und mit dem Tod bedroht sowie ihrer | |
letzten Ersparnisse beraubt worden zu sein. Mindestens sieben mexikanische | |
Kartelle haben sich seit der Grenzpolitikverschärfung unter Donald Trump | |
darauf spezialisiert, Menschen in die USA zu schleusen. Sie verdienen laut | |
Ministerium für Innere Sicherheit der USA jährlich damit bis zu 500 | |
Millionen US-Dollar. | |
Hier in Juárez trennt die klandestin Reisenden nur noch eine | |
Umgehungsstraße und die weite Freifläche vor dem Rio Bravo von der | |
berüchtigten Mauer – und von den USA. „Die Herberge wird als Ort | |
respektiert“, sagt Pastor Hugo. An ihr Fenster kommen auch die Soldaten der | |
niedrigen militärischen Ränge für ein warmes Essen, die Kleindealer, die in | |
den verlassenen Häusern im historischen Zentrum leben. In Ciudad Juárez | |
„leisten Einzelpersonen und Initiativen eigentlich pragmatisch Hilfe“, so | |
der Pastor. | |
Doch dieses Jahr ist das gesellschaftliche Klima dort umgeschlagen. Am 27. | |
März erstickten 40 Migranten im Abschiebegefängnis. Die Zellentüren waren | |
bei einem Brand nicht geöffnet worden. 27 Männer konnten von der zufällig | |
vorbeikommenden Feuerwehr gerettet werden, 15 Frauen waren aus der Zelle | |
gelassen worden. Dem Vorfall waren eine sich zuspitzende rassistische Hetze | |
in sozialen und anderen Medien und willkürliche Razzien vorangegangen. | |
Die mexikanischen Grenzstädte meistern unterschiedlich gut die | |
Herausforderung, vor die sie die repressive US-Abschottungspolitik und der | |
Exodus aus Lateinamerika stellt. Sie müssen die Massen der Abgeschobenen | |
wie die der Ankommenden aufnehmen. Besonders wenn dies den alltäglichen | |
Grenzverkehr von Schulkindern, Studierenden, Arbeitenden und Einkaufenden | |
im binationalen Ballungsraum lahmlegt, ruft dies Unmut hervor. Rassistische | |
Ressentiments schüren außerdem die quer durch die Gesellschaft vertretenen | |
Kartellmitglieder, die Gewalttaten an Geflüchteten verüben. | |
Ein halbes Jahr später scheint das Erstickungsdrama aus der kollektiven | |
Erinnerung gestrichen worden zu sein. Während der Direktor der | |
mexikanischen Migrationspolizei INM, Francisco Garduño, weiterhin sein Amt | |
bekleidet und sich im September mit einer halben Million Pesos aus dem | |
Gerichtsverfahren freizukaufen versuchte, stehen in Mexiko-Stadt vor allem | |
Sündenböcke dafür vor Gericht: Neben zwei Männern aus Venezuela, die aus | |
Protest den Brand gelegt haben sollen, wurde [3][Juan Carlos Meza Cumplido] | |
als Direktor der Grupo Beta, einer humanitären Unterorganisation der | |
Migrationspolizei, zum Verantwortlichen für die fatale Situation im | |
Abschiebegefängnis erklärt. | |
Ein unhaltbares Konstrukt, wie sich sämtliche NGOs und Migrantenherbergen | |
vor Ort empörten. Diese kennen und schätzen Meza Cumplido vor allem für | |
seinen passionierten Einsatz bei der tagtäglichen Bergung von Geflüchteten | |
aus der am Stadtrand beginnenden Wüste und dem Gebirge. Im November | |
brachten NGOs den Fall vor die [4][Interamerikanische Kommission für | |
Menschenrechte (CIDH).] Nun muss sich die Regierung von López Obrador dafür | |
verantworten. | |
Initiativen an der mexikanischen Süd- und Nordgrenze fordern eine | |
angemessene staatliche und internationale Unterstützung bei der | |
Grundversorgung von Geflüchteten in den übervollen Transitstädten. Der | |
mexikanische Präsident lud Ende Oktober zehn lateinamerikanische | |
Staatsoberhäupter zum Gipfeltreffen, um den strukturellen Ursachen für | |
Flucht und Migration „gemeinsam“ entgegenzuwirken. | |
## Verhärtung der politischen Fronten | |
Im Abschlussdokument kritisierte man auch die US-Wirtschaftssanktionen | |
gegen Kuba und Venezuela. Dort hat die Lebensmittel- und | |
Medikamentenknappheit in den letzten Jahren durch das US-Handelsembargo | |
gegen den lateinamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu einem | |
Exodus geführt und die politischen Fronten verhärtet. | |
Rund acht Millionen venezolanische Staatsbürger:innen haben | |
mittlerweile ihr Land verlassen. So sind auch Iker, Jose Carlos und Edwin | |
auf der Flucht. Sie haben es sich auf dem luftigen Herbergsdach bequem | |
gemacht. Hier hängen zum Trocknen Wäsche und Decken. | |
In der Ferne steht der Spruch „Ciudad Juárez: Lies die Bibel, denn sie | |
spricht die Wahrheit“ in gigantischen weißen Lettern auf der städtischen | |
Bergkette. Die Männer aus dem venezolanischen Caracas bilden eine | |
Schicksalsgemeinschaft seit ihrer Odyssee durch den Darién Gap, der | |
Dschungelregion zwischen Kolumbien und Panama. | |
„Dort siehst du Leichen am Wegesrand und Menschen, die von plötzlich | |
anschwellenden Flüssen mitgerissen werden“, erinnert sich Edwin schaudernd. | |
Ein weiterer Dschungel sei Mexiko-Stadt, ohne Jaguare und Pythons, dafür | |
voll lauernder Gefahren auf dem Weg nach Norden: Entführungen, Erpressungen | |
seien dort an der Tagesordnung. | |
Und dann erst käme die Zugreise, sagen die Männer, drei Tage und Nächte auf | |
Güterwaggondächern. „Da raubte man uns unsere letzten Habseligkeiten.“ In | |
Juárez kamen sie nur mit den Kleidern am Leib an. Human Rights First hat | |
seit Bidens Änderung der Asylpolitik im Mai über 1.300 Berichte von | |
gewaltsamen Übergriffen auf Geflüchtete in Mexiko gesammelt. | |
## Geld und materielle Güter im Grunde wenig wert | |
Noch einmal würde keiner von ihnen die Reise machen, sagen die drei Männer. | |
„Wir werden uns bewusst, wie wenig Geld und materielle Güter doch im Grunde | |
wert sind“, fügt Iker hinzu. „Da willst du nur noch überleben und zurück | |
zur Familie“, sagt er. Einen knappen Kilometer Luftlinie von dem Standort | |
Ikers, Edwins und Jose Carlos’ beginnen die USA. | |
In El Paso sind die Straßen sauberer als in Juárez, die Infrastruktur ist | |
moderner. Landschaftlich sieht es genauso aus: zerklüftete Hügel und Berge, | |
schroffe Wüste dort, wo nicht künstlich bewässert wird. Jogger und Wanderer | |
sind unterwegs, um den steilen Berg Cristo Rey zu besteigen oder am Schrein | |
von Fatima zu beten. | |
Dass Cristo Rey nicht nur ein Ausflugsziel ist, merkt man schon daran, dass | |
ein Fahrzeug der US-Border-Patrol, der Grenzpolizei, sichtbar auf einem | |
Hügel steht. Von der Anhöhe aus lässt sich die Szenerie gut beobachten. | |
Während der Berg für viele schlichtweg Naherholungsgebiet ist, bedeutet er | |
für andere das letzte Hindernis auf dem Weg in die USA. Die schweren | |
Grenzbefestigungen, die Juárez und El Paso fast vollständig voneinander | |
trennen, müssen vor den topografischen Tatsachen am Cristo Rey haltmachen: | |
Hier gibt es keinen Zaun, nur die Wüste selbst. | |
Eine kleine Gruppe Freiwilliger ist am Berg unterwegs, um den | |
Migrant:innen, die hier durchkommen, die Reise etwas einfacher zu machen. | |
Mit Rucksäcken ausgestattet, deponieren sie Plastikbehälter mit Wasser | |
entlang der klandestinen Routen, die das Gebiet durchziehen. Auch im Winter | |
kann das lebensrettend sein, denn oftmals harren Migrant:innen tage- und | |
nächtelang aus, bis sie von ihren Schleusern das Signal bekommen, die | |
finalen wenigen Kilometer nach Norden anzutreten. | |
In diesem Jahr sind die Zahlen der Menschen, die auf dem Weg sterben, | |
besonders hoch. 148 Personen sind bereits umgekommen im El-Paso-Sektor, der | |
den Grenzbereich zwischen dem Bundesstaat New Mexico und dem westlichen | |
Texas umfasst. Der Großteil von ihnen starb im Bereich von El Paso. | |
Witterungsbedingungen, Durst und Erschöpfung sind die häufigsten Ursachen | |
dafür. | |
Der El-Paso-Sektor ist Teil einer Grenzsicherungstaktik, die nicht nur | |
dieses Jahr unzählige Menschenleben gekostet hat. „Deterrence“, | |
Abschreckung, nennt sich das Maßnahmensystem, mit dem Menschen seit Mitte | |
der 90er Jahre in unwirtliche und abgelegene Regionen wie hier gedrängt | |
werden. | |
## „Die Menschen sterben an der Grenze“ | |
„Das Ziel ist, Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren, zu | |
bestrafen und zu töten“, sagt Bryce Peterson, der auch an diesem Tag am | |
Cristo Rey Wasserdepots anlegt. Der hagere Mann mit den vielen | |
Tätowierungen fährt regelmäßig einen halben Tag aus Arizona hierher. „Und | |
das“, sagt Peterson, „ist genau das, was passiert: Die Menschen sterben an | |
der Grenze.“ | |
Die Abschreckungspolitik, die in El Paso erfunden wurde, manifestiert sich | |
mittlerweile an der gesamten US-Mexiko-Grenze. Übergänge in der Nähe von | |
Städten und Ortschaften werden stark abgesichert, damit Migrant:innen in | |
die Wüste ausweichen müssen. Die Natur wird als Grenzwall | |
instrumentalisiert. Besonders sichtbar ist dies in Arizona, dessen südliche | |
Grenze an Mexiko heranreicht. Die Großstadt Tucson im Süden des Staates ist | |
das Zuhause von No Mas Muertos, einer Hilfsorganisation, die aktiv gegen | |
das Sterben an der Grenze vorgeht. | |
„Ary,“ die nur ihren Spitznamen nennt, ist Mitglied bei No Mas Muertos und | |
erzählt in einem Arbeiterviertel der Stadt von ihren Erfahrungen. „Es | |
sterben so viel mehr Menschen, als bekannt ist“, sagt sie. Zuständig für | |
die Rettung von Menschen im Grenzbereich ist offiziell die | |
US-Border-Patrol, doch die komme dieser Verantwortung oft nur lückenhaft | |
nach: No Mas Muertos berichtet von Hilferufen, die nicht beantwortet | |
würden. Manchmal erfänden Beamte Ausreden, warum sie einen sterbenden | |
Menschen nicht retten könnten. Obwohl die Rettungsteams von Pima County, | |
dem Distrikt, in dem Tucson liegt, eine Erfolgsrate von fast 100 Prozent | |
haben, dürfen diese nicht auf Notrufe im Grenzgebiet reagieren. | |
Die Hilfsorganisation schätzt in einem jetzt veröffentlichten Bericht, dass | |
die staatliche Border Patrol bei 63 Prozent der Vermisstenmeldungen keine | |
Rettungsmissionen in Gang setzt. Auf Leichen zu stoßen ist für Ary nichts | |
Ungewöhnliches. „Die Wüste ist so abgelegen, dass man dort draußen fast | |
garantiert Tote findet“, sagt sie. Der Kontrast zwischen No Mas Muertos, | |
die sich per Spenden finanzieren und fast ausschließlich auf die Arbeit von | |
Freiwilligen stützen, und der Border Patrol könnte kaum größer sein. | |
„Die Border Patrol hat mehr Geld als jede andere Sicherheitsbehörde in den | |
USA“, sagt Ary. Besonders stark kommt dieser Gegensatz zur Geltung, wenn es | |
um technische Ausrüstung geht. Die Aktivistin berichtet von einem Vorfall, | |
bei dem ein Mitglied ihrer Gruppe die Leiche eines Migranten über viele | |
Kilometer tragen musste, weil sich der Grenzschutz weigerte, die Bergung zu | |
unterstützen. „Wir haben die ganze Zeit gesehen, wie die Helikopter der | |
Border Patrol über dem Gebiet kreisten“, sagt Ary. | |
Doch anstatt dass die Behörde ihre Flotte für Hilfsgesuche von | |
Migrant:innen nutzt, setzt sie diese für eine Praxis ein, die sich | |
„Chase and Scatter“ nennt, Jagen und Zerstreuen. Migrant:innengruppen | |
werden von Hubschraubern, berittenen Beamten und Fahrzeugen drangsaliert, | |
um ihnen den Weg durch die Wüste zu erschweren. Durch Desorientierung und | |
Angst verlieren viele so den Anschluss an ihre Gruppe und gehen in der | |
Wüste verloren. | |
Rund 300 Kilometer weiter westlich sitzt David Peckham in einem | |
Pick-up-Truck, der langsam über eine holprige Piste im südwestlichen Zipfel | |
von New Mexico fährt. Diese Gegend von New Mexico ist eine der | |
abgelegensten des Bundesstaates, zur nächsten Ortschaft sind es rund | |
anderthalb Autostunden. Seit Peckham an die Grenze gezogen ist, engagiert | |
er sich mit anderen Freiwilligen und hinterlässt Wasser, Lebensmittel und | |
Kleidung entlang der sogenannten Migrant Trails im Hinterland. | |
„Die Anzahl der Menschen, die bei dieser Reise ums Leben kommen, ist | |
inakzeptabel“, sagt der 70-Jährige. An diesem Tag ist Peckham mit einer | |
Gruppe unterwegs, die versucht, noch unbekannte Wegstationen der | |
Migrant:innen zu finden. An einer Stelle kontrollieren sie, ob das | |
Wasserdepot, das sie versuchsweise im Sommer angelegt hatten, genutzt | |
wurde. In einem Wacholderwald finden sie auf steinigem Boden leere | |
Flaschen, Kleidungsstücke und einen tarnfarbenen Rucksack. | |
„Wahrscheinlich wurden sie hier abgeholt“, sagt Peckham. „Die Rucksäcke | |
lassen sie liegen, um unauffälliger bei der Weiterreise zu sein.“ Was den | |
Kontakt mit der Border Patrol anbelangt, hat Peckham gemischte Erfahrungen | |
gemacht. „Manche unterstützen, was wir hier draußen machen“, sagt er. | |
„Andere haben eine ausgemachte Law- and-Order-Einstellung zu unserer | |
Arbeit.“ | |
In den letzten Jahren wurden Aktivist:innen wegen ihrer Arbeit an der | |
Grenze verhaftet und verklagt. Erschwert wird die humanitäre Hilfe aber | |
auch durch Privatpersonen. Ein Mitglied von Peckhams Gruppe berichtet, dass | |
er über eine Wildkamera aufgenommen habe, wie ein Jäger die Wasserflaschen | |
eines Depots mit einem Messer zerstochen hat. | |
Peckham erzählt, er sei kürzlich von einem Mitglied einer rechten Miliz | |
bedroht worden, der ihm schwer bewaffnet im Grenzland von Arizona begegnet | |
ist. „Manche glauben eben, dass die Geflüchteten nichts Besseres verdient | |
haben als die Hölle, der sie entfliehen.“ | |
14 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/laesperanza.juarez/?locale=es_LA | |
[2] https://www.cbp.gov/travel/us-citizens/mobile-passport-control | |
[3] https://circuitofrontera.com/en/2023/11/09/grupo-beta-coordinator-released-… | |
[4] https://www.oas.org/en/iachr/default.asp | |
## AUTOREN | |
Johannes Streeck | |
Kathrin Zeiske | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Mexiko | |
USA | |
US-Grenze | |
Grenze | |
Geflüchtete | |
Lateinamerika | |
Zivilgesellschaft | |
GNS | |
Panama | |
Marihuana | |
Kuba | |
USA | |
USA | |
Mittelamerika | |
Ecuador | |
Schwerpunkt Flucht | |
Migranten | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Joe Biden | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wahlen in Panama: Demokratie in Gefahr | |
Am Sonntag wird in Panama gewählt. Skandale prägten den Wahlkampf. Kann der | |
neue Präsident Korruption aktiv bekämpfen? | |
Cannabis-Branche in den USA: Grüner Goldrausch im Wilden Westen | |
In vielen Bundesstaaten der USA ist Cannabis schon länger legal, so auch in | |
New Mexico. Ein Besuch dort, wo man Gras im Shop nebenan kaufen kann. | |
Keine soziale Sicherheit auf Kuba: Die Revolution verliert ihre Werte | |
Die Lebensmittelpreise steigen, stundenlange Stromsperren sind Alltag. Das | |
befördert häusliche Gewalt. Viele Kubaner:innen wollen nur noch weg. | |
Streit um Migrationsgesetz in den USA: Texas pocht auf Selbstverteidigung | |
Texas will in Eigenregie Migranten abschieben, was eigentlich | |
US-Bundesbehörden obliegt. Mittwoch debattierten beide Seiten vor Gericht. | |
Streit um Migrationsgesetz in Texas: Supreme Court gegen Weißes Haus | |
Der Oberste US-Gerichtshof lehnt eine einstweilige Verfügung gegen ein | |
umstrittenes Antimigrationsgesetz in Texas ab. Das bleibt dennoch außer | |
Kraft. | |
Gründe für Migration: Im Zweifel für die Mächtigen | |
Aus Honduras, El Salvador und Guatemala fliehen jedes Jahr Zehntausende vor | |
Gewalt und Perspektivlosigkeit. Ein Grund ist die ineffektive Justiz. | |
Ausnahmezustand in Ecuador: Wenn Gewalt den Markt regelt | |
Der bewaffnete Überfall auf ein Fernsehstudio in Ecuador ist eine | |
Konsequenz der globalen Drogenpolitik. Die Ursachen führen auch nach | |
Deutschland. | |
Flucht in die USA: Abschottung made in USA | |
Nicht nur die Republikaner sind pro harte US-Migrationspolitik, auch | |
Präsident Joe Biden will vehement mehr Grenzwall zu Mexiko. | |
Riesige Karawane durch Mexiko: Fußmarsch zur Grenze | |
Tausende Migrant:innen haben sich auf den Weg von Mexiko zur US-Grenze | |
gemacht. Für einige ist der Marsch eine Protestaktion gegen die Bürokratie. | |
Klimawandel in Mexiko: Vom Meer verschlungen | |
Der Südosten Mexikos war einst eine wasserreiche Region mit | |
funktionierenden Ökosystemen. Doch der Klimawandel wird zunehmend spürbar. | |
US-Grenze zu Mexiko: Biden mauert | |
Egal ob ein Demokrat oder ein Republikaner im Weißen Haus sitzt: Die Mauer | |
an der Grenze zu Mexiko wird immer länger. |