Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Klimawandel in Mexiko: Vom Meer verschlungen
> Der Südosten Mexikos war einst eine wasserreiche Region mit
> funktionierenden Ökosystemen. Doch der Klimawandel wird zunehmend
> spürbar.
Bild: Das Meer hat zahlreiche Gebäude komplett zerstört
El Bosque taz | Cristina Pacheco hatte den Ausdruck „[1][Klimawandel]“ noch
nie gehört, bevor das Meer ihr Haus verschluckte. Alles war zerstört außer
einer gelb gestrichenen Abdeckung, die noch immer dem Ozean den Rücken
zukehrt, wie auf Fotos zu sehen ist, die sie zeigt. In dem Loch, das der
Haupteingang war, brechen sich die Wellen, und man kann die Wolken sehen.
Die Betonabdeckung ist heute der einzige Hinweis darauf, dass Cristina und
ihre Familie einmal ein Zuhause hatten.
Die Gemeinde El Bosque in Tabasco, einem Bundesstaat im Südosten Mexikos,
wird langsam vom Meer verschlungen. Die Menschen dort merkten vor ein paar
Jahren, dass die Wellen immer näher kamen, nicht mehr zurückgingen und
begannen, ihre Häuser zu überschwemmen. 2019 konnten die Häuser, die am
nächsten am Wasser gebaut worden waren, nicht mehr bewohnt werden.
Das Haus von Cristina hielt bis kurz vor Weihnachten vergangenes Jahr
durch. Ein heftiger Knall im Morgengrauen zeigte an, dass das Unvermeidbare
eingetreten war: In den Wänden breiteten sich Risse aus. Mit
unterschiedlichen Nuancen hat sich diese Geschichte in den letzten drei
Jahren andauernd wiederholt: Der Meeresspiegel stieg, bis mindestens 60
Häuser, die Schulen und die Kirchen zerstört waren.
Nach Informationen der Autonomen Universität Juarez in Tabaco ist das Meer
in El Bosque in den letzten drei Jahren 200 Meter landeinwärts gekommen.
„Vorher ist das Meer gekommen und hat sich wieder zurückgezogen. Aber
plötzlich war das anders, das Meer kam und blieb an unserer Haustür. Da
haben wir verstanden, was dieser Ausdruck Klimawandel bedeutet, den wir
dauernd hören,“ sagt Cristina in einem Videotelefonat.
Wissenschaftler sagen, dass es nicht so einfach ist, jedes klimatologische
Ereignis mit dem Klimawandel und den Betroffenen zusammenzubringen, die
sich manchmal in Vertriebene verwandeln. Aber die Forscherin Lilia Gama
bestätigt, dass das, was in El Bosque passiert ist, sehr wohl ein Effekt
des Temperaturanstiegs auf dem Planeten ist. Sie war die Erste, die in der
Gemeinde den Ausdruck Klimawandel gebrauchte. Niemand dort hatte den
Begriff je zuvor gehört.
## Den Schutz verbaut
Alles ging sehr schnell, erzählt die Wissenschaftlerin, die seit mehr als
15 Jahren die Küstenerosion im Süden des Landes erforscht. Die Bevölkerung
hatte sie ursprünglich nicht auf ihrer Liste der vom Anstieg des
Meeresspiegels bedrohten Dinge, denn bis vor einigen Jahren deutete nichts
auf eine solche Entwicklung hin. Die Gemeinde liegt nahe einer der
Mündungen des Flusses Usumacinta, einem der wasserreichsten der Region, und
den natürlichen Schutzmechanismen wie Dünen und Mangrovenwäldern. Deshalb
dachte sie, das Dorf sei sicher. Aber das Stadtgebiet wurde größer, neben
dem Fluss wurde eine Landstraße gebaut, die Vegetation verschwand. El
Bosque begann, seinen Schutz zu verlieren.
„Die Häuser im Dorf waren nicht der Grund für das, was geschehen ist, denn
sie waren weit weg vom Strand gebaut. Aber wenn du die Ökosysteme
veränderst, auch wenn es nur ein bisschen ist, setzt du eine Kettenreaktion
in Gang, und die führt dann zu dem, was passiert“, erklärt Forscherin Lilia
Gama. El Bosque wurde durch zwei weitere Faktoren verwundbar: das Steigen
des Meeresspiegels und die Winterstürme, die immer stärker werden.
Rita Pacheco, 76, sagt, dass sie vor drei Jahrzehnten von ihrem Haus aus
mindestens eine halbe Stunde zum Strand laufen musste. Das hat sich
geändert: Seit etwa fünf Jahren sieht sie die Wellen aus ihrem Fenster. Am
Anfang habe sie das normal gefunden, weil mit Stürmen und Hurrikanen immer
das Wasser ein bisschen steigt, bevor es auf sein Normalniveau zurückgeht.
„Aber obwohl gar kein schlechtes Wetter war, kam das Meer immer näher, und
da haben wir angefangen, uns zu fragen, was hier los ist. Von meinem Haus
steht nur noch eine Wand, und das Meer hat sich nicht zurückgezogen“,
erzählt er am Telefon.
## Zwischen Ölförderung und Biodiversität
Der Bundesstaat Tabasco ist ein Ort der Widersprüche: Er ist einer der
Bundesstaaten mit der breitesten Biodiversität Mexikos und gleichzeitig ein
traditioneller Ölstaat mit großen staatlichen Förderinstallationen. Das
zwischenstaatliche Klimawandelforum hat Tabasco als einen der in den
kommenden Jahren am stärksten gefährdeten Orte identifiziert.
Der Grund: Das Territorium ist flach und liegt an vielen Stellen sogar
unter dem Meeresspiegel. Jeder Anstieg wird negative Folgen mit sich
bringen. Einige Studien entwerfen ein Katastrophenszenario. Climate Central
sagt: Beim jetzigen Tempo von Temperatur- und Meerespiegelanstieg könnte
bis 2050 etwa ein Viertel des Bundesstaates unter Wasser stehen, wenn keine
Hochwasserschutzsysteme wie etwa in den Niederlanden gebaut werden.
„Wenn es an den Flussmündungen und Stränden so flach ist, dann reicht ein
relativ geringer Meeresspiegelanstieg, um das Wasser ins Landesinnere
vordringen zu lassen“, erklärt Peter Girard, Vize-Sprecher von Climate
Central.
In Gemeinden wie El Bosque kommen mehrere Faktoren zusammen, die in
Lateinamerika und der Karibik häufig vorkommen, die aber die von der
Klimaerwärmung ausgehende Krise verschärfen: Geschlechterungleichheit,
Armut, fehlende Stadtplanung und niedrige Löhne. In Tabasco zum Beispiel
liegt laut offiziellen Zahlen das durchschnittliche Monatseinkommen bei
umgerechnet knapp 330 Euro.
Noch erfasst Mexiko Klimavertriebene nicht, und es gibt auch kein
Bundesgesetz, das sie als Vertriebene oder [2][Klimafolgenflüchtlinge]
anerkennen würde, auch wenn das in einigen Bundesstaaten so gehandhabt
wird. Das Land hat einige Versuche unternommen, um dafür Regelungen
einzuführen, aber bislang hat das noch nicht zum Erfolg geführt, und die
Datenlage ist dünn.
## Rekordzahl an Geflüchteten
Das Internationale Beobachtungszentrum für Binnenvertriebene (IDMC) mit
Sitz in Genf hat für das vergangene Jahr in Mexiko 7.723 aufgrund des
Klimawandels intern Vertriebene gezählt. Das ist bei Weitem nicht der
Höchststand: 2020 gab es in der Region außergewöhnlich viel Regen, und das
sorgte auch für einen Rekord in der Zahl der Flüchtlinge. In Lateinamerika
stehen Kuba, Brasilien und Kolumbien an der Spitze der Liste. Stürme und
Überschwemmungen setzen der Region am meisten zu, obwohl auch die Dürren
inzwischen ein nennenswerter klimatischer Faktor sind.
Ricardo Fal-Dutra Santos, einer der Koordinatoren des IDMC, sagt, dass es
zwei Probleme gibt, um die Anzahl der klimawandelbedingten
Binnenvertriebenen korrekt zu ermitteln: das Fehlen von globalen Daten und
die Unfähigkeit, Fluchtgründe eindeutig auf den weltweiten
Temperaturanstieg zurückzuführen. „Wir wissen nicht exakt, wie der
Klimawandel die Katastrophen verursacht oder beeinflusst“, sagt er. Der
wesentliche Faktor, der zu dieser Unsicherheit beitrage, sei die mangelnde
Verfügbarkeit von Daten.
Im vergangenen Jahr berichtete das IDMC einen weltweiten Rekord von 71
Millionen Binnenvertriebenen, beflügelt insbesondere durch den Krieg in der
Ukraine. Aber auch bei Klimavertriebenen ist ein Meilenstein gesetzt
worden: 4,2 Millionen weltweit und 103.000 in Lateinamerika. Dort werden
weniger Daten erhoben als in Europa, Asien oder selbst Afrika, aber das hat
nicht zu bedeuten, dass die Klimakrise die Region nicht betreffen würde.
Cristina Pacheco und ihre Nachbarn in Tabasco hoffen darauf, in den
kommenden Monaten umgesiedelt zu werden. Wer in einem der rund 30 Häuser
lebt, die in El Bosque noch stehen, rechnet mit dem Unabwendbaren.
Unterdessen ist eine der Nachbarinnen in die einzige Kirche eingezogen, die
noch übrig ist. Sie hatte sich geweigert, ihr Haus zu verlassen – aber als
sie aufwachte und das Wasser bereits an ihrem Bett stand, ging sie doch.
Aus dem Spanischen von Bernd Pickert
9 Jul 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
[2] /Klimafluechtlinge/!t5259309
## AUTOREN
Diana Nava
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
Mexiko
Klimaflüchtlinge
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
taz Plan
Schwerpunkt Korruption
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Flucht in die USA: Äußerst begrenzt
Geflüchtete, die via Mexiko in die USA wollen, sind einem apokalyptischen
Hindernisparcours ausgesetzt. Über Entwurzelte und Engagierte entlang der
Grenze.
Bewegungstermine in Berlin: Für offene Straßen und Grenzen
Rechtsextreme Diskurse werden für queere, geflüchtete und aktivistische
Menschen immer gefährlicher. Was tun? Solidarisch in die Offensive gehen.
Organisierte Kriminalität in Mexiko: Blutige Demonstrationen von Macht
In Mexiko stellen Erpressungen und Morde die Regierung auf die Probe. Ein
Jahr vor den nächsten Wahlen tobt ein Machtkampf.
Globale Durchschnittstemperatur steigt: Mancherorts 50 Grad und mehr
Der Dienstag war mit 17,18 Grad Celsius weltweit wärmster Tag seit Beginn
der Aufzeichnungen. Das könnte nur ein Vorgeschmack sein.
Ungewöhnlich hohe Temperaturen: 4. Juli heißester Tag auf der Welt
Mit 17,18 Grad im globalen Durchschnitt bricht der Dienstag gleich den
Hitzerekord vom Montag. Neue Höchstwerte werden wohl nicht lange auf sich
warten lassen.
Gesundheitsrisiken durch Klimawandel: „Wir sind darauf nicht vorbereitet“
Der Klimawandel bringt Hitze und Infektionserreger mit sich. Das bedeutet
erhöhte Gesundheitsrisiken auch für die Menschen hierzulande.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.