| # taz.de -- Flucht in die USA: Äußerst begrenzt | |
| > Geflüchtete, die via Mexiko in die USA wollen, sind einem apokalyptischen | |
| > Hindernisparcours ausgesetzt. Über Entwurzelte und Engagierte entlang der | |
| > Grenze. | |
| Pastor Victor Hugo Sanchez sitzt hinter einem eisernen Schreibtisch und | |
| empfängt Geflüchtete – nur wenige Hundert Meter Luftlinie von ihrem Ziel | |
| entfernt, den Vereinigten Staaten. Er ist ein bulliger Mann, lange hat er | |
| als privater Sicherheitsmann gearbeitet. Heute leitet er die [1][Herberge | |
| La Esperanza] im Zentrum der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. | |
| Insgesamt drei Dutzend Migrantenherbergen haben vor allem katholische und | |
| evangelikale Gemeinden mittlerweile hier gegründet. Pastor Hugo zeigt auf | |
| die große Fensteröffnung ohne Glas, nur mit Metallstäben vergittert. Davor | |
| stehen zwei hagere Männer in ausgewaschener Kleidung. „Hier geben wir 24 | |
| Stunden am Tag Essen aus.“ | |
| Viele der Migranten hätten „eine Reise auf Güterzugdächern durch Mexiko | |
| hinter sich“. Manche hätten die Mauer, die Mexiko von den USA trennt, | |
| erklommen „und sich am Stacheldraht davor und dahinter Arme und Beine | |
| aufgeschlitzt“. Oder sie seien aus großer Höhe abgestürzt und hätten sich | |
| die Knochen gebrochen. | |
| Im La Esperanza können sie sich ausruhen: Es gibt Zimmer mit weiß | |
| gestrichenem Holzboden im ersten Stock, und im Jahr 2019, als | |
| Migrant:innen aus Mittelamerika nicht mehr klandestin, sondern unter den | |
| Augen der Weltöffentlichkeit in großen Trecks durch Mexiko Richtung Grenze | |
| zogen, hat man die ehemalige Suppenküche für obdachlose Männer um | |
| Schlafstätten für Geflüchtete erweitert. | |
| „Unter Präsident Biden ist die Grenzmauer zwischen den Zwillingsstädten | |
| Ciudad Juárez in Mexiko und El Paso in den USA mit unzähligen Rollen | |
| Natodraht und zusätzlichen Maschendrahtzäunen unzugänglich gemacht worden“, | |
| sagt Pastor Hugo. Ein apokalyptisch anmutender Hindernisparcours für | |
| Zombies, so scheint es, nicht gemacht für Menschen aus Fleisch und Blut, | |
| die schlicht überleben wollen und nur eine äußerst begrenzte Chance auf | |
| Asyl haben. Aus der Pandemie ist Lateinamerika ärmer hervorgegangen, | |
| Staaten wie El Salvador, Nicaragua und Paraguay sind autokratischer | |
| geworden, und die Drogenkartelle haben Länder wie Haiti und Honduras | |
| zersetzt. | |
| So wurden dieses Jahr allein bis September 2,4 Millionen Geflüchtete an der | |
| Grenze zu den USA gestoppt. Täglich überqueren aber auch Tausende | |
| erfolgreich die Grenze. Auf dem US-Highway in El Paso direkt hinter dem | |
| Wall blinken Tafeln: „Vorsicht vor plötzlich auftauchenden Personen auf der | |
| Fahrbahn.“ Panzerfahrzeuge der Nationalgarde stehen bereit, diesseits | |
| patrouilliert die mexikanische Militärpolizei in sandfarbenen | |
| Mannschaftswagen. Sie erschoss im Oktober zwei Männer aus Guatemala, vier | |
| weitere wurden nahe der Grenze durch Schüsse verletzt. | |
| Schon im Juli hatte sich Ähnliches ereignet. Ehemalige Herbergenbewohner | |
| seien nach Mexiko zurückgeschoben worden, berichtet Hugo. Es seien Männer | |
| aus Nicaragua, Haiti oder Kuba gewesen – Ländern also, die keine | |
| diplomatischen Beziehungen zu den USA unterhalten. | |
| Haiti gilt gemeinhin als „Failed State“, Menschen fliehen dort vor Gewalt | |
| und Korruption. Mit Venezuela nahmen die USA im Oktober wieder Beziehungen | |
| auf – nicht zuletzt, um erneut unzählige Abschiebeflüge zu ermöglichen. In | |
| der zweiten Novemberhälfte gingen insgesamt 30 Maschinen aus den USA nach | |
| Venezuela und Mittelamerika. | |
| Eine legale Einreise, die die Voraussetzung dafür ist, in den USA um Asyl | |
| zu bitten, ist seit Mai nur noch über die [2][App CBP One des US-Zoll und | |
| Grenzschutzes (CBP)] möglich. Der Asylzugang wurde unter Präsident Biden | |
| komplett digitalisiert: Einen Termin zu einer ersten Anhörung kann man in | |
| der App mit Standorterfassung nur direkt von den mexikanischen Grenzstädten | |
| aus buchen. | |
| Und diese Städte sind schwer zu erreichen. 2023 wurden in Mexiko mehr | |
| Personen ohne Papiere festgenommen als je zuvor. Bis Oktober waren es | |
| bereits über 500.000 – mehr als im gesamten Jahr 2022. Von Chiapas aus, | |
| einem südmexikanischen Bundesstaat an der Grenze zu Guatemala, versuchten | |
| Ende Oktober über 5.000 Personen gemeinsam in einer Karawane Richtung | |
| Norden zu ziehen. Nach Verhandlungen mit der Migrationspolizei erhielten | |
| Familien Transitpapiere; alleinreisende Männer tauchten ab. | |
| Pastor Hugo schichtet Brennholz im Hof, gemeinsam mit dem kahlköpfigen, gut | |
| gelaunten David, der im mexikanischen Bundesstaat Baja California erst zum | |
| Drogenentzug und anschließend zur Kirche fand und nun rund um die Uhr die | |
| erste Ansprechperson in der Herberge ist. Der Winter in der Wüste ist | |
| eiskalt und die Sonne wärmt nur noch frühnachmittags. Im Gegensatz zu David | |
| war Pastor Hugo immer clean. | |
| Sein Vater hingegen hatte nach einer Straßenkindheit und einer | |
| heroinabhängigen Jugend Jahre hinter Gittern verbracht. Sein Sohn lernte | |
| ihn erst als Teenager kennen, da kam der Vater als geläuterter Mann zurück. | |
| Fortan hatte er eine Mission: beispielhaft voranzugehen. Heute macht der | |
| Sohn wie einst sein Vater als Prediger „Männerarbeit“ – im Gefängnis, im | |
| Entzug, auf der Straße, für Menschen auf der Flucht hat er ein offenes Ohr. | |
| Pastor Hugo kennt seine Stadt – mit all ihren Abgründen. | |
| Auch an diesem kühlen Herbstmorgen sind die Bars offen an der Straße, wo | |
| das Esperanza steht. Die rostrote Mauer zu den USA liegt nur drei Blocks | |
| entfernt und ebenso die Grenzbrücke Santa Fe, die aus dem Zentrum von | |
| Ciudad Juárez direkt nach Downtown El Paso, Texas, führt. Gegenüber dem | |
| stadtbekannten Bordell Casa Roja steht ein weißes Gebäude, das in einem | |
| Türmchen endet. | |
| ## Feiern mit Bundeswehrsoldaten | |
| In dieser alten Villa ist das Nachtleben lange vorbei: Einst empfing die | |
| Barbesitzerin Amparo Kluber Le Roy hier Bundeswehrsoldaten, die auf der | |
| US-Militärbasis Fort Bliss stationiert waren. Mexikaner hatten keinen | |
| Zutritt. Der Sohn der Besitzerin hat das Gebäude nach ihrem Tod entrümpelt | |
| und einer evangelikalen Kirche geschenkt. | |
| „Überall hier befinden wir uns im Herzen der Bestie“, erklärt der Pastor. | |
| Das Viertel Bellavista ist das Epizentrum des Juárezkartells, berüchtigt | |
| für Menschenhandel, Drogengeschäfte, Entführungen und Erpressung – auch von | |
| Menschen auf der Flucht. „Auf ihrem Weg nach Norden sind Geflüchtete mit | |
| allem konfrontiert – für die Kartelle und die Polizei sind sie ein | |
| Geschäft.“ | |
| Im Frühjahr 2023 berichteten Geflüchtete wiederholt der | |
| Menschenrechtsorganisation Paso del Norte, von der Lokalpolizei in | |
| Lagerhallen entführt, geschlagen und mit dem Tod bedroht sowie ihrer | |
| letzten Ersparnisse beraubt worden zu sein. Mindestens sieben mexikanische | |
| Kartelle haben sich seit der Grenzpolitikverschärfung unter Donald Trump | |
| darauf spezialisiert, Menschen in die USA zu schleusen. Sie verdienen laut | |
| Ministerium für Innere Sicherheit der USA jährlich damit bis zu 500 | |
| Millionen US-Dollar. | |
| Hier in Juárez trennt die klandestin Reisenden nur noch eine | |
| Umgehungsstraße und die weite Freifläche vor dem Rio Bravo von der | |
| berüchtigten Mauer – und von den USA. „Die Herberge wird als Ort | |
| respektiert“, sagt Pastor Hugo. An ihr Fenster kommen auch die Soldaten der | |
| niedrigen militärischen Ränge für ein warmes Essen, die Kleindealer, die in | |
| den verlassenen Häusern im historischen Zentrum leben. In Ciudad Juárez | |
| „leisten Einzelpersonen und Initiativen eigentlich pragmatisch Hilfe“, so | |
| der Pastor. | |
| Doch dieses Jahr ist das gesellschaftliche Klima dort umgeschlagen. Am 27. | |
| März erstickten 40 Migranten im Abschiebegefängnis. Die Zellentüren waren | |
| bei einem Brand nicht geöffnet worden. 27 Männer konnten von der zufällig | |
| vorbeikommenden Feuerwehr gerettet werden, 15 Frauen waren aus der Zelle | |
| gelassen worden. Dem Vorfall waren eine sich zuspitzende rassistische Hetze | |
| in sozialen und anderen Medien und willkürliche Razzien vorangegangen. | |
| Die mexikanischen Grenzstädte meistern unterschiedlich gut die | |
| Herausforderung, vor die sie die repressive US-Abschottungspolitik und der | |
| Exodus aus Lateinamerika stellt. Sie müssen die Massen der Abgeschobenen | |
| wie die der Ankommenden aufnehmen. Besonders wenn dies den alltäglichen | |
| Grenzverkehr von Schulkindern, Studierenden, Arbeitenden und Einkaufenden | |
| im binationalen Ballungsraum lahmlegt, ruft dies Unmut hervor. Rassistische | |
| Ressentiments schüren außerdem die quer durch die Gesellschaft vertretenen | |
| Kartellmitglieder, die Gewalttaten an Geflüchteten verüben. | |
| Ein halbes Jahr später scheint das Erstickungsdrama aus der kollektiven | |
| Erinnerung gestrichen worden zu sein. Während der Direktor der | |
| mexikanischen Migrationspolizei INM, Francisco Garduño, weiterhin sein Amt | |
| bekleidet und sich im September mit einer halben Million Pesos aus dem | |
| Gerichtsverfahren freizukaufen versuchte, stehen in Mexiko-Stadt vor allem | |
| Sündenböcke dafür vor Gericht: Neben zwei Männern aus Venezuela, die aus | |
| Protest den Brand gelegt haben sollen, wurde [3][Juan Carlos Meza Cumplido] | |
| als Direktor der Grupo Beta, einer humanitären Unterorganisation der | |
| Migrationspolizei, zum Verantwortlichen für die fatale Situation im | |
| Abschiebegefängnis erklärt. | |
| Ein unhaltbares Konstrukt, wie sich sämtliche NGOs und Migrantenherbergen | |
| vor Ort empörten. Diese kennen und schätzen Meza Cumplido vor allem für | |
| seinen passionierten Einsatz bei der tagtäglichen Bergung von Geflüchteten | |
| aus der am Stadtrand beginnenden Wüste und dem Gebirge. Im November | |
| brachten NGOs den Fall vor die [4][Interamerikanische Kommission für | |
| Menschenrechte (CIDH).] Nun muss sich die Regierung von López Obrador dafür | |
| verantworten. | |
| Initiativen an der mexikanischen Süd- und Nordgrenze fordern eine | |
| angemessene staatliche und internationale Unterstützung bei der | |
| Grundversorgung von Geflüchteten in den übervollen Transitstädten. Der | |
| mexikanische Präsident lud Ende Oktober zehn lateinamerikanische | |
| Staatsoberhäupter zum Gipfeltreffen, um den strukturellen Ursachen für | |
| Flucht und Migration „gemeinsam“ entgegenzuwirken. | |
| ## Verhärtung der politischen Fronten | |
| Im Abschlussdokument kritisierte man auch die US-Wirtschaftssanktionen | |
| gegen Kuba und Venezuela. Dort hat die Lebensmittel- und | |
| Medikamentenknappheit in den letzten Jahren durch das US-Handelsembargo | |
| gegen den lateinamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu einem | |
| Exodus geführt und die politischen Fronten verhärtet. | |
| Rund acht Millionen venezolanische Staatsbürger:innen haben | |
| mittlerweile ihr Land verlassen. So sind auch Iker, Jose Carlos und Edwin | |
| auf der Flucht. Sie haben es sich auf dem luftigen Herbergsdach bequem | |
| gemacht. Hier hängen zum Trocknen Wäsche und Decken. | |
| In der Ferne steht der Spruch „Ciudad Juárez: Lies die Bibel, denn sie | |
| spricht die Wahrheit“ in gigantischen weißen Lettern auf der städtischen | |
| Bergkette. Die Männer aus dem venezolanischen Caracas bilden eine | |
| Schicksalsgemeinschaft seit ihrer Odyssee durch den Darién Gap, der | |
| Dschungelregion zwischen Kolumbien und Panama. | |
| „Dort siehst du Leichen am Wegesrand und Menschen, die von plötzlich | |
| anschwellenden Flüssen mitgerissen werden“, erinnert sich Edwin schaudernd. | |
| Ein weiterer Dschungel sei Mexiko-Stadt, ohne Jaguare und Pythons, dafür | |
| voll lauernder Gefahren auf dem Weg nach Norden: Entführungen, Erpressungen | |
| seien dort an der Tagesordnung. | |
| Und dann erst käme die Zugreise, sagen die Männer, drei Tage und Nächte auf | |
| Güterwaggondächern. „Da raubte man uns unsere letzten Habseligkeiten.“ In | |
| Juárez kamen sie nur mit den Kleidern am Leib an. Human Rights First hat | |
| seit Bidens Änderung der Asylpolitik im Mai über 1.300 Berichte von | |
| gewaltsamen Übergriffen auf Geflüchtete in Mexiko gesammelt. | |
| ## Geld und materielle Güter im Grunde wenig wert | |
| Noch einmal würde keiner von ihnen die Reise machen, sagen die drei Männer. | |
| „Wir werden uns bewusst, wie wenig Geld und materielle Güter doch im Grunde | |
| wert sind“, fügt Iker hinzu. „Da willst du nur noch überleben und zurück | |
| zur Familie“, sagt er. Einen knappen Kilometer Luftlinie von dem Standort | |
| Ikers, Edwins und Jose Carlos’ beginnen die USA. | |
| In El Paso sind die Straßen sauberer als in Juárez, die Infrastruktur ist | |
| moderner. Landschaftlich sieht es genauso aus: zerklüftete Hügel und Berge, | |
| schroffe Wüste dort, wo nicht künstlich bewässert wird. Jogger und Wanderer | |
| sind unterwegs, um den steilen Berg Cristo Rey zu besteigen oder am Schrein | |
| von Fatima zu beten. | |
| Dass Cristo Rey nicht nur ein Ausflugsziel ist, merkt man schon daran, dass | |
| ein Fahrzeug der US-Border-Patrol, der Grenzpolizei, sichtbar auf einem | |
| Hügel steht. Von der Anhöhe aus lässt sich die Szenerie gut beobachten. | |
| Während der Berg für viele schlichtweg Naherholungsgebiet ist, bedeutet er | |
| für andere das letzte Hindernis auf dem Weg in die USA. Die schweren | |
| Grenzbefestigungen, die Juárez und El Paso fast vollständig voneinander | |
| trennen, müssen vor den topografischen Tatsachen am Cristo Rey haltmachen: | |
| Hier gibt es keinen Zaun, nur die Wüste selbst. | |
| Eine kleine Gruppe Freiwilliger ist am Berg unterwegs, um den | |
| Migrant:innen, die hier durchkommen, die Reise etwas einfacher zu machen. | |
| Mit Rucksäcken ausgestattet, deponieren sie Plastikbehälter mit Wasser | |
| entlang der klandestinen Routen, die das Gebiet durchziehen. Auch im Winter | |
| kann das lebensrettend sein, denn oftmals harren Migrant:innen tage- und | |
| nächtelang aus, bis sie von ihren Schleusern das Signal bekommen, die | |
| finalen wenigen Kilometer nach Norden anzutreten. | |
| In diesem Jahr sind die Zahlen der Menschen, die auf dem Weg sterben, | |
| besonders hoch. 148 Personen sind bereits umgekommen im El-Paso-Sektor, der | |
| den Grenzbereich zwischen dem Bundesstaat New Mexico und dem westlichen | |
| Texas umfasst. Der Großteil von ihnen starb im Bereich von El Paso. | |
| Witterungsbedingungen, Durst und Erschöpfung sind die häufigsten Ursachen | |
| dafür. | |
| Der El-Paso-Sektor ist Teil einer Grenzsicherungstaktik, die nicht nur | |
| dieses Jahr unzählige Menschenleben gekostet hat. „Deterrence“, | |
| Abschreckung, nennt sich das Maßnahmensystem, mit dem Menschen seit Mitte | |
| der 90er Jahre in unwirtliche und abgelegene Regionen wie hier gedrängt | |
| werden. | |
| ## „Die Menschen sterben an der Grenze“ | |
| „Das Ziel ist, Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren, zu | |
| bestrafen und zu töten“, sagt Bryce Peterson, der auch an diesem Tag am | |
| Cristo Rey Wasserdepots anlegt. Der hagere Mann mit den vielen | |
| Tätowierungen fährt regelmäßig einen halben Tag aus Arizona hierher. „Und | |
| das“, sagt Peterson, „ist genau das, was passiert: Die Menschen sterben an | |
| der Grenze.“ | |
| Die Abschreckungspolitik, die in El Paso erfunden wurde, manifestiert sich | |
| mittlerweile an der gesamten US-Mexiko-Grenze. Übergänge in der Nähe von | |
| Städten und Ortschaften werden stark abgesichert, damit Migrant:innen in | |
| die Wüste ausweichen müssen. Die Natur wird als Grenzwall | |
| instrumentalisiert. Besonders sichtbar ist dies in Arizona, dessen südliche | |
| Grenze an Mexiko heranreicht. Die Großstadt Tucson im Süden des Staates ist | |
| das Zuhause von No Mas Muertos, einer Hilfsorganisation, die aktiv gegen | |
| das Sterben an der Grenze vorgeht. | |
| „Ary,“ die nur ihren Spitznamen nennt, ist Mitglied bei No Mas Muertos und | |
| erzählt in einem Arbeiterviertel der Stadt von ihren Erfahrungen. „Es | |
| sterben so viel mehr Menschen, als bekannt ist“, sagt sie. Zuständig für | |
| die Rettung von Menschen im Grenzbereich ist offiziell die | |
| US-Border-Patrol, doch die komme dieser Verantwortung oft nur lückenhaft | |
| nach: No Mas Muertos berichtet von Hilferufen, die nicht beantwortet | |
| würden. Manchmal erfänden Beamte Ausreden, warum sie einen sterbenden | |
| Menschen nicht retten könnten. Obwohl die Rettungsteams von Pima County, | |
| dem Distrikt, in dem Tucson liegt, eine Erfolgsrate von fast 100 Prozent | |
| haben, dürfen diese nicht auf Notrufe im Grenzgebiet reagieren. | |
| Die Hilfsorganisation schätzt in einem jetzt veröffentlichten Bericht, dass | |
| die staatliche Border Patrol bei 63 Prozent der Vermisstenmeldungen keine | |
| Rettungsmissionen in Gang setzt. Auf Leichen zu stoßen ist für Ary nichts | |
| Ungewöhnliches. „Die Wüste ist so abgelegen, dass man dort draußen fast | |
| garantiert Tote findet“, sagt sie. Der Kontrast zwischen No Mas Muertos, | |
| die sich per Spenden finanzieren und fast ausschließlich auf die Arbeit von | |
| Freiwilligen stützen, und der Border Patrol könnte kaum größer sein. | |
| „Die Border Patrol hat mehr Geld als jede andere Sicherheitsbehörde in den | |
| USA“, sagt Ary. Besonders stark kommt dieser Gegensatz zur Geltung, wenn es | |
| um technische Ausrüstung geht. Die Aktivistin berichtet von einem Vorfall, | |
| bei dem ein Mitglied ihrer Gruppe die Leiche eines Migranten über viele | |
| Kilometer tragen musste, weil sich der Grenzschutz weigerte, die Bergung zu | |
| unterstützen. „Wir haben die ganze Zeit gesehen, wie die Helikopter der | |
| Border Patrol über dem Gebiet kreisten“, sagt Ary. | |
| Doch anstatt dass die Behörde ihre Flotte für Hilfsgesuche von | |
| Migrant:innen nutzt, setzt sie diese für eine Praxis ein, die sich | |
| „Chase and Scatter“ nennt, Jagen und Zerstreuen. Migrant:innengruppen | |
| werden von Hubschraubern, berittenen Beamten und Fahrzeugen drangsaliert, | |
| um ihnen den Weg durch die Wüste zu erschweren. Durch Desorientierung und | |
| Angst verlieren viele so den Anschluss an ihre Gruppe und gehen in der | |
| Wüste verloren. | |
| Rund 300 Kilometer weiter westlich sitzt David Peckham in einem | |
| Pick-up-Truck, der langsam über eine holprige Piste im südwestlichen Zipfel | |
| von New Mexico fährt. Diese Gegend von New Mexico ist eine der | |
| abgelegensten des Bundesstaates, zur nächsten Ortschaft sind es rund | |
| anderthalb Autostunden. Seit Peckham an die Grenze gezogen ist, engagiert | |
| er sich mit anderen Freiwilligen und hinterlässt Wasser, Lebensmittel und | |
| Kleidung entlang der sogenannten Migrant Trails im Hinterland. | |
| „Die Anzahl der Menschen, die bei dieser Reise ums Leben kommen, ist | |
| inakzeptabel“, sagt der 70-Jährige. An diesem Tag ist Peckham mit einer | |
| Gruppe unterwegs, die versucht, noch unbekannte Wegstationen der | |
| Migrant:innen zu finden. An einer Stelle kontrollieren sie, ob das | |
| Wasserdepot, das sie versuchsweise im Sommer angelegt hatten, genutzt | |
| wurde. In einem Wacholderwald finden sie auf steinigem Boden leere | |
| Flaschen, Kleidungsstücke und einen tarnfarbenen Rucksack. | |
| „Wahrscheinlich wurden sie hier abgeholt“, sagt Peckham. „Die Rucksäcke | |
| lassen sie liegen, um unauffälliger bei der Weiterreise zu sein.“ Was den | |
| Kontakt mit der Border Patrol anbelangt, hat Peckham gemischte Erfahrungen | |
| gemacht. „Manche unterstützen, was wir hier draußen machen“, sagt er. | |
| „Andere haben eine ausgemachte Law- and-Order-Einstellung zu unserer | |
| Arbeit.“ | |
| In den letzten Jahren wurden Aktivist:innen wegen ihrer Arbeit an der | |
| Grenze verhaftet und verklagt. Erschwert wird die humanitäre Hilfe aber | |
| auch durch Privatpersonen. Ein Mitglied von Peckhams Gruppe berichtet, dass | |
| er über eine Wildkamera aufgenommen habe, wie ein Jäger die Wasserflaschen | |
| eines Depots mit einem Messer zerstochen hat. | |
| Peckham erzählt, er sei kürzlich von einem Mitglied einer rechten Miliz | |
| bedroht worden, der ihm schwer bewaffnet im Grenzland von Arizona begegnet | |
| ist. „Manche glauben eben, dass die Geflüchteten nichts Besseres verdient | |
| haben als die Hölle, der sie entfliehen.“ | |
| 14 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johannes Streeck | |
| Kathrin Zeiske | |
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