| # taz.de -- Fotofestival in Arles: Die Welt durch die Blende | |
| > In der südfranzösischen Stadt widmen sich beim Festival „Les Rencontres | |
| > de la Photographie d’Arles“ alte wie junge Fotografen der Identität. | |
| Bild: Agnès Varda, Kontaktabzüge von Fotos über La Pointe Courte, 1952-1953,… | |
| Ein feiner Dunst hängt über der zweitausendjährigen Altstadt von Arles. Es | |
| wird wieder ein sehr warmer Tag werden in dem südfranzösischen, | |
| provenzalischen Ort, der als Paradebeispiel dafür herhalten kann, wie sehr | |
| die gesellschaftliche Schere in Frankreich auseinanderklafft. | |
| In den pittoresken Gässchen, gesäumt von Cafés, Restaurants und kleinen | |
| Geschäften, ist nichts von der hohen Arbeitslosigkeit, der Feindseligkeit | |
| gegen Einwanderungsfamilien aus Nordwestafrika und der wachsenden | |
| politischen Unzufriedenheit zu spüren. Im vergangenen Jahr holte Emmanuel | |
| Taché für den rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen bei | |
| den Parlamentswahlen die meisten Stimmen, bei den letzten | |
| Präsidentschaftswahlen lag Le Pen in Arles weit vor Emmanuel Macron. | |
| Während die ersten Touristengruppen über den Forumsplatz in Richtung | |
| Kolosseum geführt werden, vorbei an den Orten, an denen Van Gogh einige | |
| seiner bekanntesten Bilder gemalt hat, wie die „Sternennacht“ oder „Die | |
| Brücke von Langlois“, sind auch andere Gruppen unterwegs. Die würde man | |
| eher auf Vernissagen in New York, London oder Paris verorten. | |
| Wie in jedem Jahr kommen sie zur Eröffnung der jährlichen „Rencontres de la | |
| Photographie d’Arles“, des international bedeutendsten Fotofestivals. In | |
| diesem Jahr findet es zum 54. Mal statt. Gegründet 1970 von [1][Lucien | |
| Clergue], wird es seit drei Jahren von Christoph Wiesner geleitet, vorher | |
| Direktor der weltgrößten Fotomesse „Paris Photo“. | |
| ## Generationsübergreifende Fotografinnen | |
| Die Ausstellungen sind als Begegnungen, als rencontres, konzipiert. An 27 | |
| historischen Orten treten die Fotografien in Kontakt mit Umgebung und | |
| Architektur. Wie im ehemaligen Benediktinerorden von St. Trophime aus dem | |
| 12. Jahrhundert. Dort sind frühe Fotografien und Filmausschnitte [2][der | |
| 1928 geborenen und 2019 verstorbenen, einflussreichen französischen | |
| Fotografin, Filmemacherin und Künstlerin Agnès Varda] zu sehen Mit ihren | |
| sensiblen filmischen Gesellschaftsporträts gilt sie als Vorläuferin der | |
| Nouvelle Vague. | |
| Es sind Rolleiflex-Aufnahmen des Mittelmeerortes Sète, wohin sie von Mitte | |
| der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre jedes Jahr zurückkehrte. Auch der | |
| französische [3][Fotograf und Street Artist JR] ist im Publikum und geht, | |
| sichtlich ergriffen, von Bild zu Bild. Er hatte Varda für ihren, 2018 für | |
| einen Oscar nominierten, Dokumentarfilm „Visages Villages“ begleitet. | |
| Direkt gegenüber, in der gotisch überwölbten, ehemaligen Kirche | |
| Sainte-Anne, ist die Ausstellung „Søsterskap“ (Schwesternschaft) zu sehen, | |
| mit generationenübergreifenden Fotografinnen aus fünf nordischen Ländern. | |
| Darunter die 1993 geborene finnische Fotografin Emma Sarpaniemi, die | |
| Definitionen von Weiblichkeit mithilfe von performativen Selbst- und | |
| Gemeinschaftsporträts hinterfragt. Den direkten Bezug zu Cindy Sherman, wie | |
| in „Self-portrait as Cindy“, Titelbild der diesjährigen „Rencontres“, … | |
| Sarpaniemi in ihrer Selbstportät-Serie „Two Ways to Carry a Cauliflower“ | |
| spielerisch auf. | |
| ## Eigene visuelle Identität | |
| Beeindruckend sind in dieser gelungenen Gruppenschau auch die Arbeiten der | |
| 1952 geborenen, norwegisch-samischen Fotografin und Musikerin Bente Geving. | |
| Ihre ausgestellte frühe Serie „Anna, Inga und Ellen“ von 1988 zeigt auf | |
| spielerisch-zärtlichen Schwarzweißaufnahmen das häusliche Leben ihrer | |
| Großmutter und Tanten. Darauf beobachtet sie die Beziehung zwischen den | |
| drei Schwestern, aber auch, wie sie ihre samische Kultur leben und langsam | |
| verlieren. [4][Durch die „Nordifizierungspolitik“ wurden die Sami ihrer | |
| kulturellen Praktiken beraubt], zwangschristianisiert und häufig | |
| stigmatisiert. | |
| Nahe dem Rathaus, in der Salle Henri-Compte, sind Arbeiten der 1981 in | |
| Teheran geborenen und in Paris lebenden Fotografin Hannah Darabi zu sehen. | |
| Sie dokumentiert in ihrer Serie „Soleil of Persian Square“ das Leben der | |
| iranischen Diaspora in Los Angeles. Etwa eine halbe Million Menschen | |
| gehören dieser großen, persischen Auslandsgemeinde um den Westwood | |
| Boulevard, genannt „Tehrangeles“, an. | |
| Sie haben eigene persischsprachige Zeitungen und Radiosender, und wie man | |
| auf den Fotos sieht: Sie haben eine eigene visuelle Identität. Für Darabi | |
| bedeuten diese Fotografien eine Reise vom realen in den imaginären Raum, | |
| sie dokumentieren eine Lebensweise und Popkultur in der Diaspora, die ein | |
| Gegenmodell zum derzeitigen Regime im Iran bildet. Dazu gehört auch eine | |
| Musik, die wir „lieben, um zu hassen“, so Darabi in einem Statement zu | |
| ihrer Fotoserie aus „Tehrangeles“. Sie hat „nie ihren Platz im Herzen ein… | |
| verstreuten Nation verloren, hat nie aufgehört, unsere Körper zu bewegen, | |
| ob in [5][einem Taxi in Teheran], unter Freunden in Paris oder bei einem | |
| Konzert in Toronto“. | |
| ## Ausdruck einer Gemeinschaft, die Ausgrenzung erfährt | |
| Auf eine Spurensuche begibt sich auch die Ausstellung „Light of Saints. A | |
| Photographic Pilgrimage“ in der Kapelle des Museons Arlaten aus dem 17. | |
| Jahrhundert. Sie zeigt mitunter frühe Fotografien von Rencontres-Gründer | |
| Lucien Clergue. Clergue begleitet darauf Gitanos, Roma und Sinti bei ihrer | |
| jährlichen Pilgerreise zu der nahe gelegenen Kirche Notre-Dame-de-la-Mer | |
| mit der heiligen Statue der Schwarzen Sara. | |
| Die Wallfahrt bietet Raum für den sozialen, religiösen und | |
| [6][künstlerischen Ausdruck einer in Arles seit Generationen beheimateten | |
| Gemeinschaft], die sonst viel Ausgrenzung und Antiziganismus erfährt. Auch | |
| auf [7][der letzten Berlin Biennale] dokumentierte der französische | |
| Fotograf Mathieu Pernot das Leben einer Rom*nja-Familie aus Arles, und dass | |
| sie nie in der Stadtgesellschaft angekommen ist. Wieder aus der Kapelle in | |
| die Sonne hinaustretend, scheint dann sehr weit weg zu sein, was direkt | |
| hinter der Altstadtmauer Alltag ist. | |
| 6 Jul 2023 | |
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