# taz.de -- Fotokunstausstellung Josephine Pryde: Widerständig, wenn man genau… | |
> Fotografin Josephine Pryde ertastet mit ihrer Ausstellung in einer | |
> Synagoge im französischen Delme die Grenze zwischen Wirklichkeit und | |
> Abbildung. | |
Bild: Ausstellung „The Splits“ von Josephine Pryde im Centre d’art contem… | |
Mit öffentlichem Nahverkehr ist das Örtchen Delme im Département Moselle, | |
einer durch und durch landwirtschaftlich geprägten Gegend, nicht zu | |
erreichen. Auch deshalb würde, wer hier im entlegenen Nordosten Frankreichs | |
nach Gegenwartskunst sucht, wohl gleich auf die 2010 eröffnete | |
Centre-Pompidou-Dependance in Metz zusteuern: Aushängeschild für die | |
Dezentralisierung im kulturellen Sektor, um die sich verschiedene | |
französische Regierungen seit den 1980er Jahren bemühen. | |
Umso größer die Überraschung, dass Delme mit seinen rund 1.100 Bewohnern | |
schon seit 1993 über ein aktives Centre d’art contemporain (CAC) verfügt. | |
Neben Residenz- und Vermittlungsprogramm vor Ort finden dort regelmäßig | |
Ausstellungen zeitgenössischer Kunst statt. Das Kunstzentrum nutzt dafür | |
einen in der Form einzigartigen Ausstellungsraum: eine frühere, 1880 | |
errichtete Synagoge. | |
Einst in Lothringen, lag Delme zwischen 1871 und 1919 auf deutschem | |
Territorium. Die jüdische Gemeinde stellte damals rund ein Fünftel der | |
Bevölkerung des Orts, das bezeugen heute auch zwei jüdische Friedhöfe in | |
Delme. 1944 wurde die im maurischen Stil erbaute Synagoge von den deutschen | |
Besatzern gesprengt, 1946 wiederaufgebaut – allerdings ohne die markante | |
Kuppel, die einmal an den orientalen Prunk der Berliner Neuen Synagoge | |
erinnerte. | |
In dieser Synagoge zeigt die Berliner Künstlerin Josephine Pryde ihre | |
Einzelschau „The Splits“. Mit der Einladung nach Delme sei eine | |
kuratorische Vorgabe verbunden gewesen, so Pryde im selbst verfassten | |
Pressetext. Man habe sich eine reine Fotoausstellung gewünscht, eine | |
Premiere fürs Haus, das sich räumlich eher für Installationen eignet. | |
## Fotografie im technischen Sinne | |
Nun ist Pryde Fotografin. Zugleich arbeitet sie konzeptuell als | |
„Ausstellungskünstlerin“, die Ort, Anlass oder, abstrakt formuliert, den | |
„Kontext“, in dem Kunst hergestellt und rezipiert wird, mitbedenkt. Ihre | |
sorgfältig kalkulierten Ausstellungen machen mehr, als nur Bilder zu | |
zeigen. Doch das schließt nicht aus, dass sich Pryde mit [1][Fotografie in | |
technischem Sinn als Bildmedium] beschäftigt. Dieses gehört nicht | |
zwangsläufig der Kunst. | |
Zu sehen ist nun eine vorgeblich medientreue Bilderschau, die sich umso | |
widerständiger erweist, je genauer man hinschaut. Vorab im Studio waren | |
zwei unterschiedliche, nur schwer zu dechiffrierende Serien entstanden: | |
einmal ein Mix aus Porträt- und Produktfotografie am Beispiel zweier | |
kunstvoll-exzentrischer Frisuren. Die hatte die Künstlerin in Auftrag | |
gegeben und das Haarmodell von hinten mit viel Detail fotografiert. | |
Ob diese beunruhigend körperlichen Haarmode-Studien als Vanitas-Bilder zu | |
interpretieren sind? Jedenfalls stehen sie in formalem Kontrast mit | |
abstrakt wirkenden [2][Close-ups auf Sand, samt darin versickernden | |
Wassertropfen]. | |
Manchmal taucht zudem ein Mobiltelefon auf, das irritierend direkt von oben | |
als schmales Metallobjekt im Sand steckt, den Fokus auf den abgenutzten | |
Kopfhörereingang gerichtet. Die beiden Serien verbindet Pryde mit einem | |
zweiten Arbeitsschritt.Dabei spielt die Rahmung die Hauptrolle. | |
## Der Wirklichkeitsanspruch | |
Die Querformate in der Ausstellung sind aus zwei beziehungsweise vier | |
Foto-Tafeln identisch groß zusammengesetzt, bis auf eine Ausnahme. So | |
werden die im Titel etwas rätselhaft annoncierten „Splits“ zum eigentlichen | |
Bildthema: Eine mittige Naht zieht sich immer zwischen zwei durch den | |
Rahmen fixierte Bildbestandteile. | |
Sie ist die Nagelprobe auf den Wirklichkeitsanspruch der Fotografien – auch | |
für die kaum als solche erkennbaren Frisuren. Denn „wirklich“ sind | |
Nahtstelle und Rahmen, sie machen aufgrund einer künstlerischen | |
Entscheidung aus zwei Bildern eines. | |
Dazu passt, wie Pryde ihre Arbeiten nicht einfach hängt, sondern regelrecht | |
installiert. In sichtlicher Einlassung auf die Raumsituation werden Bilder | |
in die Ecke oder, in Konkurrenz zum Blick nach draußen, dicht ans Fenster | |
gequetscht. Eine Dreiergruppe auf der Empore korrespondiert mit den drei | |
Fenstern im Hauptraum darunter. Die materiale und konzeptuelle Qualität der | |
zu Bildern vernähten Fotos rückt auf diese Weise noch mehr in den Fokus. | |
Letztlich zeigt Josephine Pryde so die schwer zu beschreibende Gewalt, die | |
in Dingen, Bildern und Situationen wirkt, sobald ihnen die Eigenschaft | |
zugeschrieben wird, „Kunst zu sein“. Wer an Grundsatzfragen der Kunst | |
interessiert ist, dem sollte die Fahrt nach Delme nicht zu weit sein. | |
29 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Hans-Jürgen Hafner | |
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