# taz.de -- Pionier der Straßenfotografie: Er streunt wie ein Straßenköter | |
> Manisches Bedienen des Auslösers: Dem japanischen Fotografen und | |
> Analytiker der Straße, Daido Moriyami, widmet C/O Berlin eine | |
> Retrospektive. | |
Bild: Im Tokio des Jahres 1970 nahm Daido Moriyami diese Biker-Gang auf (Aussch… | |
Den japanischen Fotografen Daido Moriyama könnte man als frühen Cyborg | |
bezeichnen. Denn dort, wo andere Menschen Augen haben, sind bei ihm | |
offenbar Kameraobjektive eingebaut. Jedenfalls legen die Vielzahl von | |
Fotografien und die Bemerkungen von Personen, die Moriyama auf seinen | |
Streifzügen begleiteten, dies nahe. | |
„Ich bewunderte, wie er immer wieder in die Straßen zurückkehrte, in denen | |
wir schon gewesen waren, und beiläufig zum tausendsten Mal auf den Auslöser | |
drückte. Das erinnerte mich an einen Hund, der an Telefonmasten pisst, als | |
hätte er sich vorgenommen, überall, wo er hingeht, seine Spuren zu | |
hinterlassen“, beschrieb anlässlich eines gemeinsamen New-York-Besuchs in | |
den 1970er Jahren der fast gleichaltrige Freund und Grafikdesigner Tadanori | |
Yokoo die Arbeitsweise Moriyamas. | |
Manisches Auslöser-Bedienen ist typisch für diesen Großmeister der | |
Fotokunst aus Japan. Das Ausstellungshaus für Fotografie und visuelle | |
Medien C/O Berlin widmet nun dem 1938 in Osaka geborenen visuellen | |
Analysten der Straße eine Retrospektive. | |
## Legendär die Aufnahme eines streunenden Hundes | |
Im Ausstellungsteil über den New-York-Aufenthalt von 1971 bis 1974 zeigen | |
die Kuratoren Thyago Nogueira und Sophia Greiff auch Fotopaare von | |
derselben Situation und denselben Orten, die Moriyama immer wieder | |
aufsuchte. Leuchtreklamen sind darunter, die ihn offenbar magnetisch | |
anzogen, [1][geschwungene Autokarosserien], die sich durch | |
Straßenschluchten bewegen wie Flusswellen durch Canyons. Auch auf einsam | |
streunende Tiere fällt immer wieder der aufzeichnende Blick des Fotografen. | |
Ob es Moriyama bei seinen Streifzügen darum ging, Spuren zu hinterlassen, | |
wie Begleiter Yokoo suggeriert, oder nicht vielmehr um das Aufnehmen, | |
Archivieren und Einordnen von Spuren, sei dahingestellt. Das Bild, ein | |
Straßenköter zu sein, der sich gerne herumtreibt, wo es riecht, wo viel | |
passiert und sich auf die Ablagerungen des Alten immer wieder Neues legt, | |
verbreitete Moriyama selbst gern von sich. Legendär ist seine Aufnahme | |
eines solchen streunenden Hundes, dessen massige Gestalt, seitlich von | |
hinten mit der Kamera eingefangen, in den vergrößerten Abzügen mehr einem | |
Rind gleicht. Die Ausstellung „Stray Dog“, mit der Moriyama 1999 in San | |
Francisco seinen internationalen Durchbruch feierte, hatte den Hund gar im | |
Titel. | |
## Körnig, verwackelt und unscharf | |
Aus der Perspektive von heute wirken viele Bilder von Daido Moriyama gar | |
nicht spektakulär. Straßenfotografie hat sich als Genre längst | |
durchgesetzt. Handykameras haben zum massenhaften Verbreiten des flüchtigen | |
Bildes enorm beigetragen. Deshalb muss man Kuratoren und Kunsthistorikern | |
vertrauen, wenn sie Moriyamas Wirken auf die Medienlandschaft Japans in den | |
1960er und 1970er Jahren als revolutionär beschreiben und in ihm den | |
Begründer einer ganzen Schule sehen. | |
Die Alltagsaufnahmen von Moriyama haben eine viel rauere Ästhetik als | |
heutige Bildnotizen. Sie sind oft schlecht belichtet, unscharf und wirken | |
bei Vergrößerung sehr körnig. Er konnte noch nicht [2][auf so hübsche Tools | |
wie Autofokus], automatische Belichtungssteuerung und Stabilisatoren | |
zurückgreifen. Andererseits wurden die Begriffe „are“, „bure“ und „b… | |
japanisch für körnig, verwackelt und unscharf – zu Markenzeichen einer ganz | |
neuen Generation von Fotografen. | |
## Gespür für lauernde Gefahren | |
Das Unvollkommene erzeugt dann oft auch sehr poetische Effekte. Beim Bild | |
einer Motorradgang aus Tokio sind die Gesichter aufgrund der Überbelichtung | |
fast komplett ausgelöscht. Das lässt über den Wunsch nach Anonymität, den | |
Eindruck von Homogenität durch gemeinsamen Lebensstil und auch den Verdacht | |
nicht ganz gesetzeskonformen Verhaltens trefflich spekulieren. | |
Moriyama beschäftigte sich auch intensiv mit der Wirkung medial erzeugter | |
Bilder. In seiner Serie „Accidents“ sucht er Unfallorte auf, den eines | |
Schiffsuntergangs etwa. Er kontrastiert dann die Unfallfotos mit späteren | |
Aufnahmen, auf denen das unglückliche Ereignis längst vergangen ist, | |
Schiffe und Menschen wieder auf See zu sehen sind. Er bettet die | |
Katastrophe in den Alltag ein und weckt zugleich ein Gespür für lauernde | |
Gefahren. | |
Als im November 1963 das [3][Attentat auf John F. Kennedy] verübt wurde, | |
sammelte Moriyama Fotos von Medienberichten über den Mordanschlag. Er | |
folgte sozusagen den Wellenbewegungen, die die Schüsse von Dallas weltweit | |
auslösten. | |
Moriyama war ein leidenschaftlicher Fotobuchproduzent. In einigen | |
Exemplaren seiner Bildbände und monothematischen Fotomagazinen kann man im | |
C/O Berlin auch blättern. Er klopfte es in den 60 Jahren seiner Karriere | |
ziemlich ab, das fotografische Medium. | |
23 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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