| # taz.de -- Ausstellung zu „Bravo“-Starschnitten: Madonna zusammenkleben | |
| > „Bravo“-Starschnitte holten die Welt ins Jugendzimmer. Nun werden die 50 | |
| > Jahre westdeutscher Popgeschichte mit einer Ausstellung gewürdigt. | |
| Bild: Als „Bravo“-Starschnitt konnte man sich 1985 Madonna in Lebensgröße… | |
| Eine verpasste Bravo-Ausgabe hatte dramatische Folgen. Plötzlich fehlten | |
| Füße, Haare, Knie oder Ellbogen, die unübersehbare Lücken ins Gesamtbild | |
| rissen. Zum Glück gab es einen emsigen Schwarzmarkt, auf dem die fehlenden | |
| Fragmente im besten Falle getauscht oder erworben werden konnten. | |
| Besser war es, sich selbst in Langmut zu üben: Nach und nach | |
| materialisierten sich so eines Tages die Hard-Rock-Schocker von Kiss oder | |
| das vom schwulen Muskelmann bis zum Apachenhäuptling fröhlich unkorrekt die | |
| Klischees abarbeitende Disco-Sextett von Village People an einer | |
| Zimmerwand. | |
| 45 Jahre lang war der Starschnitt Herzstück der Jugendzeitschrift Bravo. | |
| Die Fragmentierung der Körper gehörte zum Konzept – den Anfang machten 1959 | |
| die Füße von Brigitte Bardot, in Netzstrumpfhose und Lackheels. Eine | |
| geniale Kundenbindung: Wer beispielsweise den Starschnitt der Beatles | |
| besitzen wollte, musste 39 Wochen lang jedes einzelne Heft kaufen. Und das | |
| entsprechend kostspielige Porträt dabei sorgfältig selbst ausschneiden | |
| sowie Stück für Stück zusammenkleben, was dem Jagen und Sammeln noch eine | |
| haptische Komponente verlieh. | |
| Der Bravo-Starschnitt, der als Markenname auch gut 20 Jahre nach seinem | |
| Ende immer noch selbstverständlich über die Lippen geht, war derart larger | |
| than life, dass er sogar falsche Erinnerungen hervorruft. Man meint, sich | |
| dunkel an einen solchen von Michael Jackson oder der Kelly Family zu | |
| erinnern. Den hat es aber nie gegeben. Wer es wirklich in die Star-Auswahl | |
| von 1959 bis 2004 schaffte, lässt sich jetzt in den Opelvillen Rüsselsheim | |
| nachprüfen. | |
| ## Taschengeld ausgeben für E.T. und Eminem | |
| Gleich zu Beginn der Ausstellung sind die Miniaturen aller Starschnitte | |
| aneinandergereiht, die es je gegeben hat: 118 sind es. Sehr viel mehr | |
| Männer als Frauen. Es ist dies auch ein Schnellabriss der westdeutschen | |
| Popkulturgeschichte. Anfangs orientierte man sich in der BRD noch an | |
| Hollywood, bald folgten deutsche TV- und Pop-Persönlichkeiten, später Rock, | |
| bevor alles Populärkultur werden konnte. Sogar E.T., der Außerirdische, | |
| wurde mit einem entsprechend lebensgroßen Starschnitt bedacht. | |
| Unübertroffen auch [1][Eminem] und Britney Spears. | |
| Emanzipation und Konsum schlossen sich selbstredend nicht aus. Für ein | |
| zusammengespartes Taschengeld ließ die 1956 erstmals publizierte Bravo ihre | |
| junge Leserschaft als kaufkräftige Kunden fühlen und vermittelte dafür | |
| Selbstbewusstsein und Aufklärung. Die Sorge mancher Mahner war berechtigt. | |
| Denn obwohl sie keine merkliche politische Richtung kannte, war die Bravo | |
| auch Ausdruck eines Gegenentwurfs – weg von der eigenen Scholle, raus in | |
| die Welt. | |
| Die Zeitschrift konnte auch Mackertum reproduzieren – Juliane Werding pries | |
| sie 1976 auf dem Motorrad als „Chopper-Mieze“ an. Zugleich klärte sie junge | |
| Frauen über ihre Rechte und die eigene Sexualität auf. Heute wäre manche | |
| Abbildung aus der Bravo sicherlich strafrechtlich relevant, seit 2021 die | |
| damalige SPD-Bundesjustizministerin Christine Lambrecht den Paragrafen über | |
| die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte (§ 184b StGB) massiv | |
| verschärfen ließ. Unter anderer Gesetzeslage wurde schon 1972 eine Ausgabe | |
| mit visuell expliziter „Dr. Sommer“-Reportage auf den Index gesetzt. | |
| Die Starschnitte blieben demgegenüber nahezu jugendfrei. Nackte Haut gab es | |
| mit dem ersten Starschnitt Brigitte Bardots, später waren die Rock-, Pop- | |
| und Filmstars für gewöhnlich bedeckter. Interessanter war, was getragen | |
| wurde – [2][Madonna] im Keith-Haring-Rock, Kiss in überkandidelter | |
| Bühnenmontur. Mit dem Starschnitt drang auch die Mode ins Kinderzimmer. | |
| Durchtrainiert oder sehr schlank waren, wenig überraschend, fast alle | |
| Stars. Und trotzdem wirken ihre Silhouetten hier noch einen Tick kleiner | |
| oder schmaler, wie um extra nahbar für ihre junge Zielgruppe zu bleiben. | |
| Eine Illusion der Sehgewohnheit? War man einfach kleiner? | |
| ## Fototapete und Starschnitte an der Schrägdecke | |
| Aufschlussreich auch die Körperhaltung der hier Abgelichteten: Zwar gibt es | |
| die berühmt einstudierten Posen. Doch lässt sich ein medientechnischer | |
| Shift erkennen, der die historischen Star-Bilder eindeutig vom Heute | |
| trennt. Die Selbstverständlichkeit einer Generation, aufgewachsen mit der | |
| Kamera als permanentem Inszenierungswerkzeug, lag noch in der Ferne: | |
| beinahe schüchtern, wie die Glamrocker von T-Rex in die Bravo-Kamera | |
| blicken. | |
| Und Mick Jagger kommt hier geradewegs domestiziert daher: Im Schneidersitz | |
| freundlich lächelnd, erkennt man nur mit Mühe den Derwisch, den er auf der | |
| Bühne gern gab – wie in der Schau zur Vergewisserung auf anbeigestellten | |
| Schwarz-Weiß-Fotografien nachzusehen ist. Die zeitweilige Millionenauflage | |
| des Marketingimperiums Bravo könnte erklären, warum Rockstars hier | |
| bereitwillig für Kinderzimmerwände posierten. | |
| Jahrzehnte, bevor die Bilder eines Thomas Ruff oder Andreas Gursky die | |
| XXL-Fotografie einläuteten, lebte man in der West-BRD nicht nur mit | |
| landschaftlichen Fototapeten, sondern eben auch schon lebensgroßen | |
| Starschnitten zusammen. Bilder von AusstellungsbesucherInnen zeigen, wie | |
| das seinerzeit ausschaute: eine herrlich groteske Selbstverständlichkeit, | |
| mit der die berühmten Objekte der Begierde an der Schrägdecke im | |
| Partyzimmer abhingen oder hinterm Kinderbett hervorlugten. | |
| Die Porträts wurden zu Begegnungsportalen, in die man sich träumen konnte. | |
| Mindestens aber zur Fototapete mit coolen Leuten drauf, deren Gesellschaft | |
| zum Angeben taugte. In jedem Fall sind die Angebeteten als Außenstehende | |
| noch erkennbar. Die libidinös besetzten Star-Abbilder erschienen nicht rein | |
| internalisiert wie heute jegliches Gegenüber auf den privaten | |
| Displaymedien, sie konnten den Raum der Vorstellung zwischenzeitlich | |
| verlassen. | |
| Als Phänomen erzählen der Starschnitt und damit die Schau in Rüsselsheim | |
| von einem trotz aller Subkulturen noch immer linearen Jugenderlebnis. Jung | |
| war man ja bloß ein paar Jahre. In dem Zeitraum wurde gesammelt, was die | |
| Bravo vorgab. Der allerletzte Starschnitt erschien 2004. Auf Pop-Superstar | |
| Christina Aguilera folgte dann – sehr erfolgreich seinerzeit – der Komiker | |
| Michael „Bully“ Herbig. Darüber wundert man sich vielleicht kurz. Dann | |
| ergibt alles einen Sinn. | |
| 30 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina J. Cichosch | |
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