# taz.de -- Kunstausstellung über Plastik: Seine Vielfalt birgt auch Gefahren | |
> Zwischen Faszination und Erschrecken zeigt die „Plastic World“ in der | |
> Frankfurter Kunsthalle Schirn das Material. Manchmal auch nur als | |
> Schleim. | |
Bild: Home Office 1969: Entwurf „Mobiles Büro“ von Hans Hollein | |
Es ist schon ein sagenhaftes Material, das ursprünglich am Beginn des 20. | |
Jahrhunderts und dann mit voller Wucht in der Zeit nach Ende des Zweiten | |
Weltkriegs ab 1945 seinen Siegeszug über den Erdball antrat: Plastik. | |
Das Material kann nahezu jede Form annehmen, jede Farbe, verschiedene | |
Aggregate und Oberflächen; Plastik kann transparent oder opak sein, hart | |
oder flexibel. In flüssiger Form erscheint Plastik wie reine Alchemie: eine | |
Masse, die aus archaischer Vergangenheit (Rohöl!) [1][fantastische Zukunft | |
kreiert]. | |
Über die praktischen Eigenschaften, die unsichtbaren Einsatzgebiete in | |
Medizin, Wissenschaft und Industrie wäre damit noch gar nicht gesprochen. | |
Wenig beleuchtet ist bisher außerdem, [2][wie jene Kunststoffe nicht nur | |
Design und Konsumkultur, sondern auch die Bildende Kunst bereichert haben]. | |
„Plastic World“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn gibt nun einen großen | |
Überblick. Hier zeigt sich das Material ebenso wandelbar wie als Seismograf | |
seiner jeweiligen Zeit. | |
Eiskalt gut, wie Nicola L. 1968 die kommode Frau in ihre Vinyl-Einzelteile | |
zerlegt als „Woman Sofa“ anpreist. Wie sich die plastikversessenen 1960er | |
überhaupt angefühlt haben müssen, vermittelt ein Blick auf Césars | |
„Expansion à la boite d’oeufs“, in der ekelbrauner Polyethurenschaum aus | |
einer eierkartonförmigen Plastiktasche quillt. | |
## Ekelbrauner Polyethurenschaum | |
Und bevor Christo & Jeanne-Claude Bauwerke in Stoff verhüllten, da schlugen | |
sie Zeitungen in Plastik ein – im Gegensatz zur Textilverhüllung vermutlich | |
nicht umkehrbar. „Look“ von 1965 verharrt nun dauerhaft in ihrem | |
Plastikkäfig. | |
Manches Werk, ein riesiger Haufen erstarrten Plastikschaums zum Beispiel, | |
zeugt auch von der künstlerischen Hilflosigkeit, in jedem Moment mit dem | |
Supermaterial mitzuhalten. Interessanter sind da die kleinen Ausflüge in | |
architektonische Utopien: Hans Holleins mobiles Büro, ein Plastikkokon mit | |
Schreibmaschine und Durchsicht, ist ebenso vertreten wie Collagen von | |
Archigram – jenem britischen Kollektiv, dessen urbane Visionen noch heute | |
futuristisch erscheinen und in denen etwa mobile Architekturen eine Rolle | |
spielen. | |
## Rotzgrüner Plastikschleim | |
Wo früher Plastik gegossen wurde, entsteht die Form heute oft umgekehrt: | |
Schicht für Schicht erwächst die schimmernde Korallenskulptur von HazMatLab | |
aus recyceltem Kunststoff-Filament im 3D-Drucker. Die Künstlerinnengruppe | |
stellt dem Werk noch ein installiertes Schleimarchiv aus rotz- bis | |
gelbgrünem, in Gläsern aufbewahrtem oder über Mobiliar geschüttetem | |
Plastikschleim an die Seite. | |
Gestalterisch bieten Kunststoffe unerreichte Vielfalt. Kaum im öffentlichen | |
Diskurs erwähnt wird der Umstand, dass sie jenseits des persönlichen | |
Verbrauchs aus der Industrie ohnehin kaum wegzudenken sind. [3][Arbeiten | |
neueren Datums changieren so nicht selten zwischen Faszination und | |
Erschrecken gegenüber dem einst euphorisch gefeierten Material.] Dennis | |
Siering beschäftigt sich mit Pyroplastik, versteinerten Kunststoffbrocken, | |
die er an Stränden aufspürt. | |
Und Pınar Yoldaş, Künstlerin und Naturwissenschaftlerin, bringt eine | |
Kunststoffe verstoffwechselnde Spezies in die Ozeane ein, die freilich | |
bisher leider Erfindung bleibt. | |
Los wird die Welt das Plastik nicht so schnell, mikroskopisch klein | |
durchdringt es heute ganze Organismen. Ob Andy Warhol das im Sinn hatte? | |
Immerhin formulierte der schon vor einem halben Jahrhundert, hier an einer | |
Wand nachzulesen: „Everybody’s plastic – but I love plastic. I want to be | |
plastic.“ | |
26 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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