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# taz.de -- Buch über Politisierung der Stadtplanung: Kybernetik und Revolte
> „Umstrittene Methoden“ heißt das Buch des Architekten Jesko Fezer. Er
> untersucht, wie Design und Stadtplanung in den 1960ern politisiert
> wurden.
Bild: Requisiten der Experimental-TV-Sendung „Orakel“, WDR Köln, 1971
„Urbane Praxis“ nennt sich heute die Bewegung für eine Stadtentwicklung von
unten. Innerhalb ihrer Flügel harmoniert es nicht immer. Konflikte zwischen
denjenigen, die machen, und denjenigen, die analysieren, zwischen
intuitivem Design und wissenschaftlich getriebenem Entwerfen, kehren immer
wieder. Das aktuelle Buch „Umstrittene Methoden“ von Jesko Fezer durchzieht
diese Konflikte wie sie schon vor gut sechzig Jahren in den internationalen
Debatten um Design auftauchten.
Der Widerstreit verdeckt seit den 1960er Jahren das Gemeinsame beider
Entwurfshaltungen, „ihre Distanz zur Wirklichkeit, ihre
Leidenschaftslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Umständen und ihr
Desinteresse an den Betroffenen oder Ausgeschlossenen von Gestaltung“,
schreibt Fezer.
Der Architekt, Autor und Professor für experimentelles Design Jesko Fezer
folgt den Streithälsen. Detailliert kämmt er hierfür die Bauhaus-Nachfolge
der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG Ulm) durch, auch weil in diesem
regelrechten Gestaltungskloster seit seiner Gründung 1953 zentrale Figuren
der Designtheorie wie Tomás Maldonado, Horst Rittel oder [1][Otl Aicher]
auftraten. Das Thema Partizipation ließen sie alle aber zunächst außen vor.
## Überwindung der bleiernen Nachkriegsmoderne
Einer Geschichte der Wissenschaftlichkeit im Design nachzugehen heißt für
Fezer, die gesellschaftliche Position der Gestaltung selbst zu befragen.
Erst zum Ende des voluminösen Buches, in den wilderen 1970er Jahren, kann
der Autor offensichtlich durchatmen. Die bleierne Nachkriegsmoderne hatte
auch das Design überwunden: „Auf der einen Seite etablierte sich eine
Autonomisierung und Formalisierung von Gestaltungsfragen, auf der anderen
eine Sozialisierung und Politisierung des Entwerfens.“
Der Designtheoretiker Horst Rittel ließ sich wie der Philosoph Jürgen
Habermas ab 1957 vom [2][Bundesministerium für Atomenergie] finanzieren.
Eine Studienreise führte sie auch in die USA, um Thinktanks im
militärisch-wissenschaftlich-industriellen Komplex zu erkunden, dem bald
schon das Silicon Valley entspringen würde.
Fezers tolle Entdeckung ist die TV-Sendung „Orakel“. Darin wurden 1971
Expert:innen, Datenbanken und Zuschauer-Call-ins live verkoppelt. Die
Sendung ging weit über den Maßstab von runden Tischen hinaus, hier sollten
demokratische Prozesse, Informatik und Gestaltung fusionieren.
## Gewaltsam eingeklagte Partizipation
Das Aufkommen militanter [3][Bürgerrechtsbewegungen], etwa um den People’s
Park in Berkeley 1969, machten dann vor den Lehranstalten nicht halt:
„Dort, wo Rittel, Alexander, Webber und Churchman als Professoren großen
Einfluss ausübten […], kumulierten die US-amerikanischen
Studierendenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg“, schreibt
Fezer. Protest als gewaltsam eingeklagte Partizipation „führte zu einem
radikalen Einbruch der Realität in den Fachdiskurs.“
Erfahrungen von Krieg, Armut, Rassismus, aber auch Populär- und Subkultur
durchbrechen eine zuvor recht akademisch geordnete Welt. Immer mehr
Gestalter:innen begaben sich in konkrete Konfliktzonen – seien dies
prekäre Quartiere vor der Haustüre oder ferne Slums. Wie der US-Planer Paul
Davidoff es 1970 formulierte, „gab es immer eine Lobby für die
Wohlhabenden. […] Neu ist jedoch eine wachsende Bewegung von Fachleuten,
die einen Weg finden wollen, die Armen zu vertreten.“
Der schwarze Harvard-Architekt Max Bond stand dem Architects’ Renewal
Committee in Harlem ab 1967 vor, nachdem er zuvor im postkolonialen Ghana
Erfahrung gesammelt hatte. Nur wenige seiner Mitglieder befassten sich wie
er mit „nicht-klassisch-architektonischen Projekten, wie
Aufklärungskampagnen, Rechtsberatung, Mobilisierung, politischer
Interessenvertretung und sozialer Stadtteilarbeit oder Bildung“.
Im revolutionären Portugal bildeten sich ab 1974 zahlreiche Wohnbaugruppen.
Der aktivistische „Mobile Dienst für lokale Wohnunterstützung“ (SAAL)
sollte für 40.000 Familien die prekäre Wohnsituation verbessern – auch
durch direkte Beteiligung der Bevölkerung.
Das eingangs im Buch groß gedruckte Zitat „I would say forget it, forget
the whole thing“ des Design-Masterminds Christopher Alexander macht klar,
dass radikale Selbstbefragung der Disziplin nicht vor der eigenen Methodik
halt machte. „Was wäre also heute ein antineutrales Entwerfen?“, fragt
[4][Fezer am Ende]. Jetzt, wo doch technokratische Bauplanerfüllung
traurige Wiederkehr feiert.
25 Feb 2023
## LINKS
[1] /Ausstellung-ueber-Otl-Aicher-in-Berlin/!5874782
[2] /Atomkraftwerke-als-Denkmaeler/!5901660
[3] /Film-ueber-folgenreichen-Lynchmord/!5907964
[4] /Legendaerer-Club-in-Hamburg/!5352654
## AUTOREN
Jochen Becker
## TAGS
Wohnungsbau
Design
Geschichte
Plastik
Klara Geywitz
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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