# taz.de -- Zwitscher-Ausstellung in Wilhelmshaven: Tschilp, tschilp! Tüdideld… | |
> Die Kunsthalle Wilhelmshaven hat dem Zwitschern eine Ausstellung | |
> gewidmet. Sie ist ein sinnliches wie intellektuelles Vergnügen. | |
Bild: Eule oder doch eher Fledermaus? The Owl (Ausschnitt) | |
Wilhelmshaven taz | Intervention. Irritation. Ein heftig unvertrautes | |
Gezwitscher begrüßt die Flanierenden auf der parkurbanen Adalbertstraße in | |
Wilhelmshaven. Vogelhochzeit? Konferenz der Vögel? Gefiederten-Party? | |
Balzarien im Swingerclub der flatterhaften Wesen? | |
Klar ist nur, nicht alle scheinen eingeladen zu sein. Denn Möwen schreien | |
im Vorbeifliegen empört auf, grimmig gurren die anwesenden Tauben und | |
Hummeln summen geheimnisvolle Kommentare. Bekommen sie Platzangst aufgrund | |
der Migration invasiver Arten? | |
Beim Versuch, den Gesang genau zu lokalisieren, kommt der Lauschende bald | |
unter einem Ahorn zu stehen, der als Klangglocke der frei pulsierenden | |
Sinfonie des Tirilierens funktioniert. Idyllisch. | |
Da [1][nebenan aber die Kunsthalle residiert], ist nicht von einem | |
naturhaften Ereignis auszugehen. Wer genau hinschaut, wird die Lautsprecher | |
des im Spannungsfeld Natur-Stadt verorteten Sound-Environments entdecken. | |
## 1971er Audiodatei aus Serbien | |
„Gezwitscher“ heißt denn auch die aktuelle Kunsthallen-Ausstellung mit | |
Werken von 23 Künstler:innen – und macht vor großen Namen nicht halt. | |
Entstammt das Outdoor-Konzert doch einer Audiodatei, die | |
[2][Performance-Ikone Marina Abramović] für „The tree“ aufgenommen und 19… | |
in einem Belgrader Baum abgespielt hat – vor einem ehemaligen Gebäude der | |
Geheimpolizei als Verweis auf die Freiheit zwitschernder Künstler:innen | |
in Serbien. | |
Entlastet von der politischen Dimension sorgt die Installation nun | |
feinironisch charmant für Aufmerksamkeit an der Nordseeküste und lockt zur | |
kuratorischen Fokussierung der Vögel in der bildenden Kunst. | |
„Empirisch gefühlt“, so erklärt Museumsleiterin Petra Stegmann, seien es | |
halt die Tiere, die den größten Widerhall unter Maler:innen, | |
Plastiker:innen, Videomacher:innen, Performer:innen und | |
Musiker:innen erfahren haben. Beflügeln sie doch die Fantasie als | |
hochfliegende Symbole – wie Taube, Rabe, Eule als Friedens-, Tod-, | |
Weisheitsboten – oder drücken menschliche Sehnsüchte aus, etwa die | |
Fähigkeit, mit eigener Körperkraft in die Lüfte zu segeln. | |
Dem beschwerlichen Dasein auf der Erdkruste zu entschweben, erstrebt auch | |
der italienische Konzeptkünstler Gino de Dominicis. Für die gefilmte | |
Performance „Tentativo di volo“ (1970) versetzt er seine Arme immer wieder | |
in Flügelschlagbewegungen und springt, naja, er hüpft von einem Stein. | |
Der Kampf gegen die Schwerkraft geht stets verloren, aber die Hoffnung | |
bleibt, wenn die Kinder, Enkel, Urenkel usw. immer weitermachen, werde die | |
Evolution irgendwann ein Einsehen haben und die Gene derart mutieren, dass | |
der Mensch vogelfrei abheben kann. | |
Entsprechend ließ sich auch Body-Art-Künstler Karel Miler ablichten, als er | |
der politisch drangsalierten Existenz in der Tschechoslowakei nach der | |
Niederschlagung des Prager Frühlings mit Tanzsprüngen zu entkommen | |
versuchte, die er im gezeigten Foto „Closer to the sky“(1977) zwischen | |
Himmel und Erde fixierte. | |
Passend dazu hat die tschechische Multimediakünstlerin Eva Koťátková ein | |
beflügeltes Kostüm geschneidert, diese „Flying machine No. 2“ (2013) wäre | |
auch prima zu Karneval einsetzbar. Gerade solche verspielten | |
Auseinandersetzungen, aber auch konkret zeitgenössische Aneignungen des | |
Vogel-Sujets interessieren Stegmann. | |
Auf einem Bildschirm-Triptychon lenkt das Video „Stork, a sacred bird“ | |
(2019) von Diana Lelonek den Blick nahe Riga auf eine der größten | |
Müllkippen Europas, wo Störchen wie im Paradies ständig neue Nahrungsmittel | |
vom Himmel, oder genauer: aus pausenlos anrollenden Lkws vor den Schnabel | |
fallen, sodass sie sich die mühsam-gefährlichen Reisen zu den | |
Winteraufenthalten in Afrika sparen können. | |
Einen verstörenden Kontrast bietet die Schäbigkeit des super nahrhaften | |
Biotops und die Schönheit der grazilen Langbeiner mit ihrem Image als | |
heilige Wesen und der profanen Verehrung als Glücks-, Wohlstands- und | |
Kinderbringer:innen. | |
## Auch was für Kinder | |
Ebenso zeitkritisch kommt Lelonkes Klanginstallation im Kunsthallengarten | |
daher. Überlieferte Tonaufzeichnungen einiger der 160 [3][laut | |
Weltnaturschutzunion (IUCN)] gerechnet ab dem Jahre 1500 bereits | |
ausgestorbenen Vogelarten erklingen als eine Art Requiem oder als Memento | |
mori für die lokalen Vogelpopulationen. | |
Aber auch Kinder bekommen etwas zu bestaunen, das zudem bei Eltern als | |
fröhliche Moral-Pop-Art funktioniert. Versucht der Schweizer Objektkünstler | |
Matthias Garff doch naturschützerisch engagiert und in Ablehnung unserer | |
Wegwerfgesellschaft zu zeigen, wie „Müll des Straßenrands zum Botschafter | |
eines bedrohten Artenreichtums“ werden kann. | |
Abfall upcycelt er zu übermenschlich großen und doch zauberhaft niedlichen | |
Wesen: Rotkehlchen, Buchfink, Kohlmeise, Goldammer und Stieglitz (2019). | |
Latten und Bleche werden zu Federn, Fahrradklingeln zu Augen, Fußmatten und | |
Fellteppiche zu Gefieder, Bambusrohr zum Geläuf. Die in kunterbuntem Stolz | |
über die Ausstellung wachenden Skulpturen besetzen einen üppig | |
dimensionierten Freiraum, den Vögel außerhalb nicht mehr haben, lautet wohl | |
die Botschaft. | |
Ida Applebroog erinnert an die im 17. Jahrhundert von | |
Naturforscher:innen initiierte Mode, reich illustrierte Vogelbücher | |
herauszugeben, im Besonderen an John Audubons „Birds of america“ (1838), | |
eine umfassende Sammlung von Zeichnungen der in den USA heimischen | |
Vogelarten. | |
## Abgestürzter Wellensittich | |
Mit farbigem Gel und Ultrachrometinte auf Polyesterfolie inszenierte | |
Abbildungen lebloser oder im Zerfließen ihres farbigen Gefieders | |
dahinsiechender Tiere verweisen darauf, dass sie getötet, entkernt, | |
ausgestopft und präpariert wurden, um in Ruhe gezeichnet, gemalt oder in | |
den Druckstock geritzt werden zu können. | |
Immer wieder hebt der schwarzhumorige Schalk der Kuratorin den | |
Unterhaltungswert der vielschichtigen und -fältigen Ausstellung. Denn neben | |
Applebroogs traurig-bösen Bildern ist ein ausgestopfter Wellensittich in | |
natura zu sehen. Der als Sklave kleinbürgerlicher Bespaßung eingesperrte, | |
von keinem Tierquälerei-Gegner je befreite Vogel türmte wohl eigeninitiativ | |
– in den Tod. Er scheint mit einem Hechtsprung auf den Boden geknallt und | |
kopfüber stehengeblieben zu sein: „Hansi goes down“ heißt das Werk von Via | |
Lewandowsky. | |
In einem weiteren Video, „Playing the birds“ (2019) der Hamburgerin Annika | |
Kahrs, ist die Begegnung von Kultur und übertönter, unterjochter Natur | |
visualisiert. In einem romantischen Festsaal spielt ein Mann im | |
Klassik-Pianisten-Design Franz Liszts Auseinandersetzung mit der | |
Vogelpredigt des Franz von Assisi, „Legende Nr. 1“, und rund ein Dutzend in | |
Käfigen gefangen gehaltenen Vögeln singen dazu ihre Melodien. Das | |
Machtverhältnis von Mensch und Vogel ist in aller Absurdität deutlich. | |
Andere Musiker interpretieren wiederum Schwalben auf Telegrafendrähten, | |
fotografiert von Jan Ságl, als Noten auf Notenlinien – und spielen diese | |
Partitur. Ach, es ist ein witzig-schlaues Vergnügen, all diese Kunst aus | |
der Vogel-, all diese Vögel aus der Kunstperspektive zu betrachten. | |
[4][Kunsthalle Wilhelmshaven]: Gezwitscher. Kunst aus der Vogelperspektive. | |
Täglich außer montags 11 bis 17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr. | |
Ausstellungsführung 3. August, 19 Uhr. Bis 10. September | |
6 Aug 2023 | |
## LINKS | |
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[4] https://www.kunsthalle-wilhelmshaven.de/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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