# taz.de -- Ausstellung zu Mutterschaft in der Kunst: Kunst mit Kind | |
> Originelle Perspektivwechsel: Die Ausstellung „Motherhood“ in Syke zeigt | |
> beeindruckend gegenwärtige Arbeiten zum uralten Thema der Mutterschaft. | |
Bild: Papas Narbe: Alex Giegolds Familienfotos stellen Kaiserschnitt und Mastek… | |
Natürlich ist es ein bisschen albern, jetzt mit Jungfräulichkeit | |
anzufangen. Aber es ist doch ausgesprochen verblüffend, wie neu und | |
unverbraucht diese Ausstellung über Mutterschaft in der Kunst daherkommt. | |
Gerade zu Weihnachten, da sich hierzulande ja kaum Deckung finden lässt vor | |
all den frisch entbundenen Jesusbabys und ihren (eben unbefleckten) Muttis | |
vor den Krippen. | |
Nun ist [1][in Sachen christlicher Ikonografie] so ganz viel nicht zu holen | |
im Syker Vorwerk. Und auch sonst verdankt die Schau „Motherhood“ ihren | |
originellen Schwung höchstens am Rande ihren Motiven, um die sich Kunst | |
seit jeher rankt: Frauen, Babys, Milch und Brüste. Aufregend ist hingegen | |
der Perspektivwechsel, den Kuratorin Nicole Giese-Kroner hier mit 14 | |
Künstler:innen und -kollektiven unternimmt. Weil es eben um die Mutter | |
als Kunstschaffende geht, als Künstlerin also, was in der zeitgenössischen | |
Kunst auch heute alles andere als selbstverständlich ist. | |
Ein noch gar nicht so wahnsinnig historischer Ausgangspunkt wäre etwa | |
Marina Abramović, mit der sich Künstlerin Hannah Cooke in einer der in Syke | |
ausgestellten Videoarbeiten auseinandersetzt. Cooke hat das Setting von | |
Abramovićs berühmter [2][Performance „The Artist Is Present“] nachgebaut: | |
Hier wie dort sitzt eine Frau mit rotem Kleid und langen braunen Haaren an | |
einem Holztisch und bietet sich ihrem Gegenüber regungslos als | |
Projektionsfläche an. | |
Vor der scheinbaren Abramović hat hier nun Hannah Cooke Platz genommen und | |
stillt ungerührt ihre Tochter Ada. Über ein paar Minuten tritt das stille | |
Duell auf Augenhöhe ohne weitere Erklärung den Beweis an: Auch eine Mutter | |
kann erstens hier sitzen und damit zweitens auch Kunst schaffen. „Ada vs. | |
Abramović“ ist in Sachen Kunstbetrieb die programmatische Arbeit der | |
Ausstellung, reiht sich aber ein in vielfältige Zugriffe aufs Thema. | |
Drei Räume weiter beschäftigt sich Clara Alisch „Lactoland“ etwa ebenfalls | |
mit dem Stillen, lässt die Frage der Öffentlichkeit dabei aber komplett | |
beiseite, um dem Publikum erst recht auf die Pelle zu rücken. Ihr Video | |
verschneidet eine Frau beim Abpumpen ihrer Brust mit einer Szene aus der | |
Bonbonmanufaktur in der Bremer Böttcherstraße. | |
Zwischen spritzender Milch und rhythmisch angesaugter Brustwarze ist immer | |
wieder die Künstlerin zu sehen, die einen milchig weißen Bonbonteig knetet | |
und zu Drops formt. Auf einem Tisch vor der Leinwand steht ein offenes Glas | |
mit eben diesen Bonbons – zur Selbstbedienung. | |
Solche Kippmomente von Tabu und Fetisch hatten sich ungewollt bereits vorab | |
in der Ankündigung der Ausstellung niedergeschlagen. Von einem Gruppenfoto | |
der [3][Berliner Künstlerin Sophia Süßmilch] kursierten schon vor | |
Ausstellungsbeginn mindestens drei Versionen im Netz. Auf allen sitzen ein | |
junges Mädchen und eine Schwangere auf Schaukelpferden, dazwischen die | |
nackte Künstlerin auf allen Vieren. | |
Für die Ausstellungswerbung im Netz wurde nun mal das Kindergesicht | |
unkenntlich gemacht, um das minderjährige Modell zu schützen. In einer | |
dritten Versionen wurden auch die Brustwarzen der Künstlerin verwischt, | |
damit Instagram ihren Account nicht sperrt – nicht schon wieder. So viel an | |
dieser Stelle zum gesellschaftlichen Fortschritt, zur Prüderie und zur | |
Ästhetik der Zensur. | |
Der weibliche Körper steht in „Motherhood“ naturgemäß im Mittelpunkt. Es | |
gibt aber durchaus auch Arbeiten über queere Mutterschaftsentwürfe: intime | |
Familienfotos etwa, die Narben vom Kaiserschnitt der Mutter mit der | |
Mastektomie des Vaters kontrastieren. Auch Mütter gibt es hier, die Männer | |
sind. Und Frauen, die ausdrücklich keine Mütter sein wollen. | |
## Queere Mutterschaft | |
Dass hier eine komplexe Gemengelage zur Verhandlung steht, hatte der | |
vollständige Ausstellungstitel bereits in notwendiger Sperrigkeit | |
versprochen: [4][„Motherhood. Nicht / Noch nicht / Nicht mehr / Vielleicht | |
/ Muttersein“]. Erfreulich ist beim Gang durchs Syker Museum, wie | |
aufmerksam die Präsentation diese zwar verwandten, aber doch sehr | |
unterschiedlichen Fragestellungen zu ihrem Recht kommen lässt. Sie werden | |
eben weder unter das gemeinsame Thema gezwungen, noch runtergekocht aufs | |
historisierende Pars pro Toto. | |
Und das hätte man ja ohne Weiteres tun können: im Marsch von den | |
Fruchtbarkeitsgöttinnen an vorzeitlichen Höhlen durch zweitausend Jahre | |
Marien-Franchise über Paula Modersohn-Becker bis heute oder so. Hat man | |
aber nicht. Stattdessen wirft „Motherhood“ beeindruckend gegenwärtige | |
Schlaglichter auf Fragen, die so alt sind wie die Menschheit – und auf | |
Antworten, die gefunden, behauptet, erkämpft und eben auch immer wieder | |
verteidigt werden müssen. | |
23 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ausstellung-Ikonen-in-Bremen/!5633982 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=HvcQ39OBzzo | |
[3] https://sophiasuessmilch.com | |
[4] https://www.syker-vorwerk.de/de/ausstellungen/aktuell.html | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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