# taz.de -- Ausstellung „Fluidity“ in Syke: Zurück in der Defensive | |
> Die Ausstellung „Fluidity“ hinterfragt die Kategorien Mann und Frau. | |
> Offenbar wird dabei der Rollback, den der Lockdown mit sich gebracht hat. | |
Bild: Der Körper ist das Kunstwerk: Arbeit von Cassils, Courtesy of the artist… | |
BREMEN taz | Es gibt Wichtigeres als Kunst und Schlimmeres als die | |
Schließung von Museen. Im Syker Vorwerk, einem Haus für zeitgenössische | |
Kunst in der Nähe von Bremen, geht es nicht mal um Geldsorgen. Man hat hier | |
eine Stiftung im Rücken und braucht kein zahlendes Publikum, um den Kopf | |
über Wasser zu halten. Und trotzdem stand mit der Corona-geschlossenen | |
Gruppenausstellung „Fluidity“ mehr auf dem Spiel als ein bisschen | |
Kulturprogramm in der Provinz. | |
Die Kategorien Mann und Frau sollte die Ausstellung hinterfragen, draußen | |
auf dem Land Zweifel aussähen, dass mit der Unterscheidung von | |
heterosexuell hier und homosexuell dort schon alles gesagt sei: ein | |
Abarbeiten an also genau jenen vermeintlichen Gewissheiten, die im | |
Lockdown-Alltag so unerwartbar laut [1][zurückgeschlagen haben]. | |
Die Kultur war kaum abgeschaltet und die Frauen waren noch gar nicht wieder | |
richtig angekommen am Herd, da gibt die „Werteunion“ als populistischer | |
Rechtsausleger der CDU den Ton vor: „Diese schlimme Zeit macht jetzt | |
hoffentlich auch dem Letzten klar, dass Professoren für Medizin, Chemie und | |
Biologie unendlich viel wichtiger sind als solche für Gender Studies.“ Eine | |
kleine Blödheit auf Twitter, klar, aber eben auch ein Beispiel für sehr | |
viele weitere. | |
Die Krise lehrt jedenfalls große Vorsicht vor Sätzen, die damit anfangen, | |
„worauf es jetzt wirklich ankommt“. Welche Prioritäten Staat und | |
Gesellschaft im Ausnahmezustand setzen, bestimmt die Debatten seit dem | |
ersten Lockdowntag und bis zur letzten Lockerungsstufe wird sich auch | |
nichts daran ändern. | |
Die verwalteten Ungerechtigkeiten sind dabei im Kern gar nicht neu: Wer | |
heute alleinerziehend auf Honorarbasis im Homeoffice schuftet, der (oder in | |
der Regel die) hatte auch vor Corona wenig zu lachen. Und trotzdem | |
beunruhigt die Leichtfertigkeit, mit der die kleinen Erfolge etwa in Sachen | |
Inklusion, Gleichberechtigung oder auch Menschenwürde Geflüchteter | |
aufgegeben werden, weil sie offenbar doch nur ein Luxus waren in Zeiten des | |
Überschusses. | |
Mehr als erfreulich ist jedenfalls, dass Nicole Giese-Kroner und Alejandro | |
Perdomo Daniels, die Macher:innen der Syker Ausstellung, unter widrigen | |
Umständen noch einen ausgesprochen sehenswerten Katalog produziert haben | |
und „Fluidity“ auch soweit verlängern konnten, dass die Ausstellung nun | |
immerhin noch ein paar Tage zu sehen sein wird. | |
Über zwei Stockwerke zieht sich die Schau aus inhaltlich herausfordernden | |
Positionen und großen Namen der queeren Kunstszene. Cassils aus Los Angeles | |
etwa hat sich seit Jahren als Multimedia-Künstler:in verdient gemacht und | |
dafür zahlreiche angesehene Preise und Stipendien erhalten. | |
Das Werk in Syke ist Cassils’ eigener Körper, der sechs Monate lange mit | |
Bodybuilding und Aufbaupräparaten in ein Muskelpaket verwandelt wurde. | |
Videoaufnahmen dokumentieren diese Veränderungen im Zeitraffer, ästhetisch | |
überzeichnet ist das Pillenfressen zu sehen. Am Ende sind Cassils’ | |
weibliche Brüste so gut wie verschwunden – gehen jedenfalls unter zwischen | |
allerlei Muskelbergen und -tälern dieser hypermaskulinen Actionfigur. | |
Bei den markant gesetzten Brüchen wie Cassils’ knallrotem Lippenstift und | |
einem betont lässig geschwungenen Seitenscheitel geht es allerdings nicht | |
um weibliche Attribute, sondern eher grundsätzlich ums Inszenieren: um | |
Zweifel am Bild und dem Selbstbewusstsein, dass die Körperhaltung lediglich | |
behauptet. | |
Noch ausdrücklicher suchend ist nebenan die Fotoserie „Relationship“ von | |
Zackary Drucker. In 46 Bildern dokumentiert Drucker tagebuchartig ihre | |
Entwicklung von männlich zu trans-weiblich, während sich ihr Partner Rhys | |
Ernst gleichzeitig auf den Weg von weiblich zu trans-männlich begibt. Die | |
in den USA als pornographisch zensierte Arbeit – auch das eine | |
Backlash-Anekdote – handelt von Zärtlichkeit und Nähe, auch wenn die beiden | |
nur selten als Paar zu sehen sind. Vor allem aber offenbart sie die | |
Verletzlichkeit nicht abschließend kategorisierbarer Menschen. | |
Auch hier geht es um Inszenierungen. Die intimen Bilder sind keine | |
Schnappschüsse, folgen aber auch keiner naiven Dramaturgie. Es ist eine | |
freischwingende Bewegung zwischen unklaren Zuständen. Interessant und | |
vielleicht erstaunlich ist, dass sich nicht der Mann und die Frau | |
entgegenkommen, wenn sie äußere Merkmale wie Muskelaufbau und Brüste | |
austauschen, sondern dass sich zwei Menschen vielmehr auf einen gemeinsamen | |
Weg ins Undefinierte machen. | |
Unter den insgesamt neun Positionen der Gruppenausstellung zeigt | |
„Relationship“ vielleicht am deutlichsten, wie zwei Monate Lockdown den | |
Blick verschieben können. Wirkte die in der Kleinstadt mutig ausgestellte | |
Unentschlossenheit damals noch als Ausdruck einer verhalten optimistischen | |
Aufbruchstimmung, geht sie heute nahtlos auf im Verteidigungsdiskurs hinter | |
verschlossenen Türen: als einer dieser Luxuserfolge, die dem Krisenmob so | |
egal sind wie die Kunst im Ganzen. Bleibt zu hoffen, dass auch dieser | |
Zustand eine Momentaufnahme bleibt. | |
26 May 2020 | |
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[1] /Sexismus-in-der-Coronapandemie/!5685388 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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