# taz.de -- Ausstellung mit Videokunst in der Schirn: Zerstörung als erhabenes… | |
> John Akomfrah verdichtet in der Frankfurter Schirn Fragen um | |
> Postkolonialismus und das Anthropozän. Identität bleibt in seinen Filmen | |
> komplex. | |
Bild: Der freigelassene Sklave Olaudah Equiano in John Akomfrahs „Vertigo Sea… | |
Auf dem Weg in die Innenstadt. An der Straßenecke warten Tagelöhner auf | |
Arbeit, rumänische Wortfetzen. Gegenüber öffnen und schließen sich lautlos | |
die Schranken zur Einfahrt der Europäischen Zentralbank, abgedunkelte | |
Limousinen. Lastenfahrräder mit Kindergarten-Kindern, Flaschensammler mit | |
geübtem Blick in die Abfallkübel, am Mainufer Nil-Enten und ihre glibbrigen | |
Exkremente. Laubbläser, an den Wänden Graffiti, Suchbilder entlaufener | |
Katzen, Konzertplakate. Am Domeingang posiert eine indische Besuchergruppe | |
für Instagram. | |
Aus solch einem synchronen Erleben kann man in der Frankfurter Schirn | |
Kunsthalle den „Space of Empathy“ betreten. Ein Karussell von Bildern und | |
Tönen des ghanaisch-britischen Künstlers John Akomfrah. Mit der | |
Eintrittskarte darf man erneut hinein, ein Hinweis darauf, dass man die | |
drei gezeigten Arbeiten „The Unfinished Conversation“ (2012, 46 Minuten), | |
„Vertigo Sea“ (2015, 48 Minuten) und „Becoming Wind“ (2023, 32 Minuten) | |
kaum auf einmal schaffen, geschweige denn verarbeiten kann. | |
Die Schirn zeigt häufig Videoarbeiten von John Bock über [1][Doug Aitken] | |
und Aernout Mik bis [2][Elizabeth Price]. Das Publikum nimmt sie auch gerne | |
an, aber nicht immer bleibt es bis zum Ende dabei. Dass die Show mit dem | |
obligaten Dreisatz „Rassismus“, „Gender“, „Umweltzerstörung“ angek… | |
ist, schärft die Erwartungen nicht, ebenso wenig Akomfrahs Büchertisch im | |
Eingangsbereich, an dem man sich bei James Lovelock, Achille Mbembe und | |
Queer-Readern festlesen könnte. | |
2024 bei der Venedig-Biennale | |
Auf fünf großen Leinwänden wird „Becoming Wind“ gezeigt, das jüngste We… | |
Akomfrahs, der in diesem Jahr zum Ritter des British Empire ernannt wird | |
und 2024 Großbritannien bei der Venedig-Biennale vertreten wird. Diese | |
Arbeit ist nun erstmals in Deutschland zu sehen – „elegische Szenen | |
allegorischer Darstellungen des Gartens Eden“ nennt sie Schirn-Direktor | |
Sebastian Baden. | |
Akomfrahs Choreografie von Foto-Stills, Dokumentarfilmen und Sound ist mehr | |
als das. Das Kinderlied „Funkle, funkle kleiner Stern“ begleitet | |
Slow-Motion-Aufnahmen von einem Strand, an dem sich junge Frauen vergnügen | |
und junge Männer Strandholzskulpturen erklimmen. Extrem scharfe | |
Makroaufnahmen von Pflanzen, Hölzern, Steinen, Händen, Vögeln und einer | |
Schlange (Akomfrahs Angstobjekt) wechseln mit verschwimmenden | |
Lichtabstraktionen und Warnhinweisen auf die drohende Katastrophe: „The | |
thing to come“, „It moves among us“, „We are slow, we need to be quick�… | |
Dazwischen von Akomfrah oft verwendete surreale Uhren, historische | |
Aufnahmen von Sklaven und aktuelle von Polizeigewalt gegen People of | |
Colour. | |
Wenn man zu genau hinschaut, überhört man eventuell den Klang: Stücke von | |
Thelonius Monk, Blätterrascheln, knisternde Feuer und Windgeräusche, meist | |
elektronisch hergestellt als Pendant zu den Texturen der Bilder. Inserts | |
propagieren „Verankerung“, „Widerstand“, „Schutz“ und „Immunität… | |
Akomfrah liefert eine Momentaufnahme des Anthropozän, die stets, wie bei | |
den großen sozial- und umweltdokumentarischen Fotografen [3][Sebastiao | |
Salgado] („Genesis“) oder Edward Burtynsky („Anthropocene“), in der | |
Versuchung steht, die Komplettzerstörung der natürlichen Welt durch den | |
Menschen als erhabenes Schauspiel in Szene zu setzen. Akomfrah vermeidet | |
den erhobenen Zeigefinger ebenso wie den üblichen Öko-Kitsch, er zeigt die | |
oft beunruhigende Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. | |
„Schwarzes Leben beruht auf dieser schwebenden oder verzögerten Gegenwart. | |
Mir ist aufgefallen, dass dieser Sinn für die unmöglichen Identitäten der | |
Zukunft auf eine Weise auch zu den ökologischen Räumen passt, die wir | |
brauchen. Wir müssen fast zu etwas Windartigem werden, um dorthin zu | |
gelangen“, kommentiert er sein Verfahren im Gespräch mit der Kuratorin | |
Julia Grosse. | |
Unterwerfung der Natur | |
Weit schwerer auszuhalten ist die ozeanische Drei-Kanal-Installation | |
„Vertigo Sea“ von 2015, einem atemberaubenden Wechsel von Bildern großer | |
Schönheit von Vogel-, Fisch- und Schmetterlingsschwärmen aus dem | |
Naturfilm-Archiv der BBC mit visuellen Zeugnissen von Massakern an Menschen | |
und Tieren. Diese machen klar, wie sehr die Unterdrückung von Menschen und | |
die Unterwerfung der Natur, hier der marinen Umwelt, einer analogen | |
Verachtung, Verwertung und Ausrottung unterliegen. | |
Akomfrah zitiert einen Ausspruch des (hochdekorierten und nie zur | |
Verantwortung gezogenen) Marcel Bigeard, der sich als besonders brutaler | |
französischer General im Algerienkrieg (1954-1962) hervortat, man töte | |
Menschen und Tiere am besten auf gleiche Weise, indem man sie nach der | |
Folter aus großer Höhe ins Meer wirft. Was Bigeard selbst genau wie die | |
Kapitäne der Sklavenschiffe während der Atlantikpassage und die | |
argentinische Militärjunta tatsächlich getan haben. | |
Konterkariert wird dieses Grauen durch enigmatische Tableaux vivants in der | |
Manier Caspar David Friedrichs, mit denen sich Akomfrah als großer | |
Post-Romantiker zu erkennen gibt. Eine der mit dem Rücken zum Betrachter | |
platzierten Strand-Figuren in historischer Kleidung stellt den | |
freigelassenen Sklaven Olaudah Equiano (1745–1797) dar, der in England als | |
Abolitionist, Seefahrer und Arktis-Forscher wirkte. | |
Schönheit und Terror wohnen nah beieinander. Doch Akomfrahs Video bildet | |
einen kongenialen Kontrast zu kapitalismuskritischen Narrativen, wie sie | |
etwa der US-Fotokünstler Alan Sekulas (Fish Story, 1995 und Okeanus, 2017) | |
oder der englische BBC-Dokumentarist Adam Curtis (Everything Is Going | |
According to Plan, 2013) vermitteln. | |
Stuart Hall als Mentor | |
Im Vergleich mit ihnen hat man Akomfrah vorgeworfen, unpolitisch zu sein | |
und „nur“ eine diffuse Empathie mit der sterbenden Mitwelt hervorbringen zu | |
wollen. In „Becoming Wind“ mag das so scheinen. Doch Akomfrahs Gesamtwerk | |
schließt, wie „The Unfinished Conversation“ unterstreicht, an Stuart Hall, | |
den Begründer der Cultural Studies in Birmingham an, den er als seinen | |
intellektuellen und politischen Mentor nennt. Hall legte die verborgenen | |
Strukturen des racial regime offen und warb für eine wohlverstandene | |
Kreolisierung. | |
Akomfrahs frühe Arbeiten im [4][Black Audio Film Collective (BAFC) der | |
1980er Jahre], wie etwa seine Doku „Handsworth Songs“, sind deutlich von | |
Halls Arbeitsweise geprägt. Und die Frankfurter Schau belegt, wie daraus | |
Akomfrahs eigene Handschrift entstand. Hall hatte im Übrigen ein komplexes | |
Verständnis von Identitätspolitik, das wesentlich differenzierter | |
argumentiert als heutige Epigonen, deren essentialistischer Opferdiskurs | |
eher die „dunklen Seiten der Empathie“ (Fritz Breithaupt) aufscheinen | |
lässt. | |
Die zahlreichen Besucher der Schirn haben sich von Akomfrahs eindrücklichen | |
Bilder-Geschichten in den Bann schlagen lassen, die in alltägliche | |
Assoziationsketten einwandern könnten, etwa auf den Wegen in Museen und aus | |
ihnen heraus. Sie bringen zum Vorschein, was eigentlich offen vor uns lag. | |
30 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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