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# taz.de -- Doug Aitken in Sindelfingen: Begegnung mit Gandhi
> Doug Aitkens Medienkunst hat viel Endzeitstimmung. Im Schauwerk
> Sindelfingen erinnert er an eine unzeitgemäße Art des Widerstands.
Bild: Tradierte Naturkastastrophe als Rundbühne: Doug Aitkens „Wilderness“…
Der Horizont über dem Meer ist glutrot. Funken tanzen über das Wasser.
Schön und schrecklich. Wenn die Sonne in diese ästhetische Hölle sinkt,
zucken die Menschen am Strand ihr Mobiltelefon und filmen. Alle Hände gehen
in die Luft. Ein spontanes technoreligiöses Ritual. Die Polizei überwacht
die Szene. Niemand darf den anderen zu nahe kommen.
Es herrscht Pandemie in Kalifornien. Gleichzeitig lodern Waldbrände. Später
wird die Luft vor Asche grau werden und am Rand des Graus wird sich
vielleicht ein schwaches Farbspektrum bilden. Aber „the day after“ ist
nicht auf diesem Video des Künstlers Doug Aitken zu sehen. Es ist, mit
seinen vielen Projektionsflächen zum Surroundsystem angeordnet, unter dem
Titel „Wilderness“ (2022) das räumliche Zentrum seiner Solo-Ausstellung
„Return to the Real“ im Schauwerk Sindelfingen.
Um „Wilderness“ gruppieren sich Arbeiten, die ähnlich zwischen menschlicher
Endzeitstimmung und dem Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung alternieren.
Figuren aus Fiberglas in Erschöpfungshaltungen, von innen erleuchtet:
Gefühle, die den einsackenden Körper durchpulsen. Oder Tiere, die in
verlassene Motelzimmer eingeladen wurden und die Bedauerlichkeit
menschlicher Dinge, stilllebenhaft beleuchten, demonstrieren.
Diese Stimmung dystopischer Melancholie, in der die Situation bedrängender
wird, aber die am eigenen Leib fühlbare Katastrophe noch auf Abstand
bleibt, kann Doug Aitken meisterlich inszenieren, dafür zeichnete die
internationale Kunstwelt den 1968 geborenen US-Amerikaner auch mit vielen
Preisen aus. Noch geht es irgendwie im Rahmen des Bekannten weiter, noch
ist das Wissen ums falsche Leben schlimmer als die Effekte davon.
Überlebensgroßer Gandhi
Durch diese eigentlich unerträgliche, aber ja doch täglich reproduzierte
Dekadenz lassen die Ausstellungsmacher:innen einen unzeitgemäßen
Pilger laufen: Gandhi. Überlebensgroß. Seine ikonografische,
scherenschnittartige Figur stützt sich auf einen durch eine Leuchtorgel
illuminierten Pilgerstab.
Die Skulptur von 2018 bezieht sich auf Gandhis wohl bekannteste friedliche
Protestaktion gegen die britische Kolonialmacht in Indien: den
[1][Salzmarsch (1930)]. Der Handel von Salz, ein Grundnahrungsmittel, war
den Besatzern vorenthalten. Auf den Erwerb mussten hohe Steuern gezahlt
werden. Aus Protest wanderte Gandhi, geleitet von anderen Mutigen, ans
Meer, schöpfte Wasser, ließ es verdampfen. Übrig blieb das kostbare Gut.
Die Gandhi-Figur überrascht zwischen diesen letzten Ausläufern der
„schönen“ alten Welt. Eine Art Wiedergänger, der zwischen den Zeichen der
Zeit auftaucht. „Zum Wirklichen zurück“, wie der Ausstellungstitel fordert,
mit Gandhi? In einer Zeit, in der gewaltfreier Widerstand und ziviler
Ungehorsam allerhöchstens noch ein paar symbolische Bäume retten, aber
weder Waldbrände verhindern noch brutale Regimes und Ökonomien unterwandern
(können)?
Fragezeichen im Raum
Aitkens Gandhi-Figur wirkt nicht idolhaft, trotz ihrer Größe nicht
erdrückend, sondern eher wie ein Fragezeichen im Raum. Wasser rieselt aus
ihr heraus in ein mit Kieseln ausgekleidetes Auffangbecken. Verwässert sie?
Oder symbolisiert der Wasserkreislauf die Frage, welche Ideen des
pazifistischen Unabhängigkeitskämpfers sich noch recyceln lassen?
Für welche Wirklichkeit steht Gandhi? Für die vielen Ohnmachten friedlichen
Widerstands gegenüber militaristischer und konsumistischer Aufrüstung,
gegenüber lebensfeindlichen Lebensrealitäten? Oder aber die Ohnmachten
gegenüber demokratiefeindlichen Befindlichkeitsprotesten, die Werkzeuge
zivilen Ungehorsams nutzen, um Aggressivität freizusetzen? Oder wiederum
für den Mangel an diskursivem Geleitschutz, wenn es um das hohe Gut der
Gewaltfreiheit und deren (immer wieder neu zu ermittelndem) Ethos geht?
Gandhi war nicht nur ein prominenter Vertreter des pazifistischen
Widerstands, sondern auch des Antikapitalismus. Seine Kraftanstrengungen
waren in beiden Beziehungen immens. Seine Aktionen hat er unter anderem
durch juristische und politische Analyse und wochenlanges Meditieren
vorbereitet. Es ging ihm, bei allen Fehlbarkeiten, nicht um irgendeinen
Widerstand, sondern um die beste Art davon.
„Gewaltloser Widerstand“, schrieb [2][Aldous Huxley], bedeute „die enorme
Kraftanstrengung zu unternehmen, die nötig ist, um das Böse mit dem Guten
zu überwinden.“ In diesem Sinn konfrontiert der symbolische Pilger unter
dem Titel „Crossing the Borders“ in Aitkens Soloausstellung auch mit der
Frage der Übereinstimmung von innerer und äußerer Realität. Was ist die
eigene Wirklichkeit gegenüber dem Wissen, ein falsches Leben zu führen? Das
Sindelfinger Schauwerk öffnet einen geradezu meditativen Raum, sich ihr zu
stellen.
26 Mar 2024
## LINKS
[1] /Aktivistin-ueber-Klimakrise-und-Widerstand/!5906018
[2] /Biografie-des-Schriftstellers-Aldous-Huxley/!5613041
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Kunst
Medienkunst
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