| # taz.de -- Möbel aus Kunststoff in der DDR: Das Garten-Ei war auch ein Luxus-… | |
| > Transfergeschichte zwischen West und Ost: Die Schau „Pure Visionen“ in | |
| > Eisenhüttenstadt erzählt, wie ein Kunststoff die DDR-Wohnwelt mit Farbe | |
| > flutete. | |
| Bild: Deckel auf und reingesetzt ins „Garten-Ei“ aus Polyurethan, entworfen… | |
| Die DDR war auch Pop. Das mag man kaum glauben angesichts grauer | |
| Hausfassaden, fahler Funktionärs-Outfits und des Mangels an einem der Bravo | |
| ebenbürtigen Printprodukt über den popkulturellen Musikmarkt. Grellbunte | |
| Möbel in runden oder Wabenformen, die sogar würdig des Einsatzes in | |
| MTV-Videos gewesen wären, gab es aber doch, sowohl in Privathaushalten als | |
| auch in der Gastronomie. All das sogar von der SED-Spitze gefördert und von | |
| der schillernden Abteilung Kommerzielle Koordinierung des späteren | |
| Stasi-Obersts Alexander Schalck-Golodkowski auf den Weg gebracht. | |
| Kultobjekte aus DDR-Produktion, etwa das „Garten-Ei“ oder der | |
| „Känguru-Stuhl“, sind gerade im Museum Utopie und Alltag in | |
| Eisenhüttenstadt zu sehen, das mit der Ausstellung „Pure Visionen“ auf die | |
| ebenso farbige Geschichte der quietschbunten Möbel eingeht. Beim | |
| „Garten-Ei“ handelt es sich um eine stark abgeflachte Kugel von etwa 70 cm | |
| Durchmesser. Ihre Oberseite kann geöffnet und um 90 Grad als Rückenlehne | |
| aufgeklappt werden. Es gab Ausführungen in Rot, Rosa, Orange, Weiß und | |
| Blau. Im Inneren des Plaste-Eis befinden sich Polster, die das bodennahe | |
| Sitzen bequem machen. | |
| Die Hülle ist aus Polyurethan. Dieser Kunststoff wurde bereits 1937 in den | |
| Laboren der I.G. Farben hergestellt; wenige Jahre später wurde die Firma | |
| durch das [1][in NS-Konzentrationslagern zum Massenmord eingesetzte Giftgas | |
| Zyklon B] berüchtigt. | |
| Polyurethan, abgekürzt PUR, wurde dann ab den 1950er Jahren zu einer feinen | |
| Sache. Dank seiner Härte und Wetterbeständigkeit wurde PUR beim Häuserbau | |
| wie in der Möbelindustrie eingesetzt. Früh waren auch Ästhetikspezialisten | |
| begeistert von dem Werkstoff. Horst Redeker vom Ostberliner Institut für | |
| Angewandte Kunst lobte schon 1959 im Buch „Chemie gibt Schönheit“ die | |
| tollen Formen, die aus Erdölprodukten hergestellt werden können. Das Buch | |
| ist in der Sonderausstellung zu sehen, wie auch andere gedruckte Zeugnisse | |
| der Chemie-Euphorie mit Titeln wie „Schöpfung ohne Grenzen“ und „Chemie … | |
| Trumpf“. | |
| ## Chemie-Optimismus beidseitig des Eisernen Vorhangs | |
| Der Chemie-Optimismus war bekanntlich nicht auf die sozialistische | |
| Alltagswelt beschränkt. In den USA lösten ab 1952 die Tupperware-Partys | |
| Begeisterung für Plastikbehälter im Haushalt aus. In Sachen PUR-Möbel | |
| jedoch avancierte die DDR im kurzen Zeitfenster der 1970er Jahre sogar zum | |
| größten Produzenten der Welt. Tische, Stühle und ganze Schrankwandfronten | |
| wurden aus dem Material hergestellt und eifrig auf den Wohnweltseiten von | |
| Magazinen wie der NBI beworben. Interieurskizzen aus der Zeit mit echtem | |
| Retro-Charme sind in der Ausstellung auf Wandgröße hochgezogen. | |
| Schön an „Pure Visionen“ ist auch, dass die Ausstellung nicht nur das | |
| Chemieprogramm der einstigen DDR feiert. Denn die Industrie im real | |
| existierenden Sozialismus hatte zunächst Probleme, die Formen für die | |
| schrillen Objekte herzustellen. Deshalb wurden Experten in die | |
| Bundesrepublik geschickt. | |
| Mehrere Karten bilden in der Ausstellung ihr Netzwerk ab. Östlicherseits | |
| gab es das Synthesewerk Schwarzheide (heute BASF, das auch als einziger | |
| privatwirtschaftlicher Förderer der Schau auftritt) und das Petrolchemische | |
| Kombinat Schwedt. Sie stellten ab den frühen 1970er Jahren | |
| Polyurethan-Möbel her. Westlicherseits hatten Firmen wie | |
| I.G.-Farben-Nachfolger Bayer und mittelständische Unternehmen wie | |
| Elastogran und Horn die frühe Expertise. Vermittelnde Instanz war der in | |
| Ost-West-Beziehungen allgegenwärtige Stasi-Ableger Kommerzielle | |
| Koordinierung. | |
| Die Zusammenarbeit beim „Garten-Ei“ verlief so: Der deutsch-ungarische | |
| Designer Peter Ghyczy – als Jugendlicher übrigens nach Niederschlagung des | |
| Volksaufstands in Ungarn in die Bundesrepublik geflüchtet – entwarf für die | |
| Firma Elastogran das Ei. Die Serienproduktion erwies sich im Westen aber | |
| als zu teuer. Und so wurde es per Lizenzvergabe im Billiglohnland DDR | |
| hergestellt. Zunächst nur für den westdeutschen, später auch für den | |
| DDR-Markt. Dort wurde es zum Preis von 430 Mark verkauft. Das mutet billig | |
| an im Vergleich zu heutigen Preisen auf Ebay, oft jenseits der 1.000 Euro. | |
| 1975 allerdings lag der Durchschnittslohn in der DDR laut statista.com bei | |
| 889 Mark im Monat. Das „Garten-Ei“ war durchaus ein Luxus-Ei. | |
| ## Der „Känguru-Stuhl“ aus Schwedt | |
| Auch der ursprüngliche Entwurf des „Känguru-Stuhls“ kam von einem Designer | |
| aus dem Westen. Erich Moeckl entwickelte ihn angelehnt an den damals schon | |
| als Klassiker des [2][Popdesigns geltenden Panton-Stuhl des Dänen Verner | |
| Panton] – ein Freischwinger aus einem Guss. Moeckls untere Auflagefläche | |
| war durch eine diagonale Strebe mit der Sitzfläche verbunden, die | |
| Silhouette erinnert so an ein kniendes Känguru. | |
| Der Entwurf wurde vom DDR-Designer Siegfried Mehl für die Serienproduktion | |
| in Schwedt angepasst. Den Känguru-Stuhl fand man dann schnell auf den | |
| Terrassen von Cafés und den Ferienanlagen des Freien Deutschen | |
| Gewerkschaftsbundes. Mehl entwickelte auch eigenständige Serien von | |
| PUR-Möbeln. Den Sessel „Karat“ etwa, auf dessen breiter Sitzfläche – | |
| gepolstert oder ungepolstert – man geradezu versinken konnte. Nach der | |
| Wende war Mehl übrigens als Grafiker in den Uckermärkischen Landesbühnen | |
| Schwedt tätig. | |
| Polyurethan hat allerdings toxische Eigenschaften. Eine der Komponenten ist | |
| in der Herstellung hochgiftig. Bei Bränden entstehen Blausäureverbindungen. | |
| Es zu recyclen ist bis heute schwierig. Gegenwärtig wird Polyurethan | |
| weniger für quietschbunte Möbel, sondern vor allem als Dämmstoff in der | |
| Bauindustrie eingesetzt. Chemie bringt nicht nur Schönheit, wie es 1959 | |
| hieß. Sie kann auch für gewaltige Probleme sorgen. Auch das spricht die | |
| Ausstellung in Eisenhüttenstadt an. Und [3][ohne sowjetisches Erdöl, das | |
| per Pipeline] seit 1963 direkt in Schwedt ankam, hätte es die Visionen aus | |
| dem PUR-Stoff ohnehin nicht gegeben. | |
| 14 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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