# taz.de -- Berliner Ausstellung von Andrea Pichl: Erich Mielkes Frühstückspl… | |
> Andrea Pichl erzählt im Hamburger Bahnhof vom Waren- und Geldtransfer | |
> zwischen DDR und BRD. Ihre „Wertewirtschaft“ ist auch ein Kommentar zu | |
> Beuys. | |
Bild: Buntstiftzeichnungen in der Ausstellung „Andrea Pichl. Wertewirtschaft�… | |
„Frühstück, 2 Eier, 4 1/2 Minuten köcheln, vorher anpicken“ steht in lei… | |
verrutschter Schreibmaschinenschrift über dem Plan, der Kaffee, Milch, | |
Marmelade, Brot und Butter auf dem Frühstückstisch von Erich Mielke genau | |
verortet. | |
Andrea Pichl hat ihn in der [1][Stasi-Zentrale in Lichtenberg] gefunden, | |
fotografiert und abgezeichnet. Man könnte die kleine schwarz-weiße | |
Bleistiftzeichnung als das große symbolische Bild von [2][Andrea Pichls | |
kritischer Intervention im Hamburger Bahnhof] betrachten, bringt sie doch | |
die Verhältnisse in der DDR hinsichtlich Konsum, Lebensstil und politischer | |
Führung auf den Punkt. | |
Schließlich gehorchte der Konsum in der DDR nicht dem Markt und seinen | |
Bedürfnissen, sondern dem Politbüro. Der Warenfetisch entsprang dem Mangel | |
an Angebot und Qualität, nicht dem Marketing, also der wettbewerbsbedingten | |
Verführungskraft der Produkte. | |
In der DDR bedurfte es keiner besonderen Verpackung, um Seife oder Reis zu | |
verkaufen, was Joseph Beuys 1980 dazu veranlasste, im Museum der Schönen | |
Künste in Gent aus der DDR geschmuggelte „Wirtschaftswerte“, konkret | |
Lebensmittel, in polemischer Absicht den prächtigen Ölgemälden der | |
flämischen Meister gegenüberzustellen. | |
Korrekturen an Beuys | |
Den Waren- und Geldtransfer zwischen Ost- und Westdeutschland – und eine | |
damit verbundenen Konsumkritik – greift auch Andrea Pichl in ihrer | |
„Wertewirtschaft“ auf, ihren „Korrekturen“ der „Wirtschaftswerte“ v… | |
Joseph Beuys, gewissermaßen dem Hausherrn in der Kleihueshalle, in der sie | |
ausstellt. | |
Bei den vier monochromen, tiefschwarzen Bungalow-Skulpturen, die sie hinter | |
Beuys’ „Straßenbahnhaltestelle. A monument to the future“ (1976) in den | |
Raum gestellt hat, handelt es sich um maßstabsgetreue Typen kleiner | |
Fertighäuser aus den Katalogen der Genex Geschenkdienst GmbH. Adressat | |
waren Westdeutsche, die dort Gartenhäuschen und andere begehrenswerte Güter | |
für ihre Freund:innen und Verwandten im Osten kaufen und so wertvolle | |
Devisen ins Land bringen sollten. | |
Die Schwarzbauten der in der DDR geborenen Künstlerin sind nicht nur | |
kritische Erinnerung an den Genex-Geschenkdienst, sondern dienen auch als | |
Ausstellungsräume. In einem thematisiert Andrea Pichl die Geschichte dieses | |
Bautyps, ausgehend von den im Zweiten Weltkrieg entwickelten Behelfsheimen | |
für die ausgebombte Bevölkerung, insbesondere dem vom [3][Bauhäusler Ernst | |
Neufert] entwickelten „Kriegseinheitstyp“ von 1943, bis hin zum Systembau | |
in der DDR und der weiteren, auch internationalen Verwendung von | |
[4][Plattenbauten], etwa in Dublin. | |
Deren Verfall beziehungsweise die entsprechenden Provisorien und | |
dekorativen Verschönerungen samt der Kommentierung durch Graffiti | |
dokumentiert sie in einem anderen Bungalow über die Doppelprojektion mit | |
Fotos aus ihrem Archiv. | |
Interior Design der DDR | |
Die bezaubernden Buntstiftzeichnungen im dritten Pavillon schließlich | |
entzaubern das zuletzt gerne positiv gewürdigte [5][Interior Design der | |
DDR]. In Serie gezeichnet und in Serie auch als Tapete an die Wände | |
geklebt, offenbart sich nicht unbedingt schlechter Geschmack, sondern – im | |
Stillstand der Muster und Modelle, in den ewigen fünfziger Jahren samt | |
zunehmendem intellektuellen Qualitätsverlust in den siebziger und achtziger | |
Jahren – eine Ästhetik der Anpassung und des Gehorsams. | |
Wobei die Stasi, wer sonst, natürlich da und dort ausbrach und wie ein von | |
Pichl gefundenes Foto zeigt, ihren Mitarbeitern Yoga-Kurse anbot – obwohl | |
Yoga als esoterischer westlicher Unsinn verfemt war. | |
Die formale Eleganz und kluge Ästhetik von Pichls beeindruckender | |
kritischer Intervention kommt exemplarisch in dem riesigen Vorhang zum | |
Ausdruck, der den Raum so durchzieht, dass links und rechts je zwei | |
Bungalows zu stehen kommen. Aus vielen brav gemusterten Stoffen | |
zusammengesetzt, kommt er auf die stolze Größe von rund 100 Quadratmetern. | |
Seine Monumentalität straft dann aber die dünne, lappige Stoffqualität | |
Lügen. Kein Eiserner Vorhang mehr, nirgends. | |
25 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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