| # taz.de -- Revival der DDR-Moderne und Städtebau: Verwegen und einnehmbar | |
| > Wie gut, dass öffentliche Bauten und Kunst der DDR-Moderne jetzt wieder | |
| > wahrgenommen werden. Doch ihre Anerkennung sollte nicht in Nostalgie | |
| > kippen. | |
| Bild: Kongresshotel und Stadthalle entstehen in Karl-Marx-Stadt auf Drängen vo… | |
| Die DDR-Moderne kommt. Besonders ihre verwegenen Freizeitbauten aus den | |
| 1960er und 70er Jahren. Schon ihre Beschreibung zeigt, welch ästhetisches | |
| und technisches Experiment damals gewagt wurde: der Pavillon mit | |
| Pylonen-Hängedach, die gläserne Veranstaltungshalle mit hyperbolisch | |
| paraboloid gekrümmten Dachflächen. Richard Neutra, der berühmte | |
| [1][österreichisch-jüdische Architekt, der mit seinen Villen in | |
| Südkalifornien den Stil des Mid-Century prägte] und damit die Kulissen für | |
| viele Hollywoodfilme schuf, soll extra nach Chemnitz zur Eröffnung des | |
| Omnibusbahnhofs gekommen sein, nur um eben solch ein Pylonen-Hängedach von | |
| dem Architekten Johannes Meyer und dem Bauingenieur Christian Weise zu | |
| sehen. Dann fuhr er wieder zurück nach Westdeutschland. | |
| Dennoch vegetierten gerade diese expressiven Gebilde einer Spätmoderne aus | |
| der DDR bald 35 Jahre in ostdeutschen Städten vor sich hin. Die | |
| Kulturpaläste und Veranstaltungshallen, öffentliche Bauten für eine | |
| öffentliche Nutzung – schwer in der freien Marktwirtschaft zu händeln, zu | |
| raumgreifend und gemeinschaftlich für eine investorfreundliche Stadtplanung | |
| der Wendejahre, die geschlossene Shoppingmalls und Parkhäuser favorisierte. | |
| Aber so sehr diese Gebäude die stilistische Kühnheit der Zeit | |
| widerspiegeln, sie sind auch schwierig. Sie bringen eine politische | |
| Vielgesichtigkeit der Moderne zum Vorschein. Der Stadtsoziologe Harald | |
| Bodenschatz brachte es jetzt während einer Tagung in Chemnitz zur | |
| Geschichte von Karl-Marx-Stadt in etwa auf diese Formel: Diktaturen | |
| interessieren sich für den öffentlichen Raum. Den wollen sie kontrollieren. | |
| Setzten viele DDR-Architekt:innen eine gewisse künstlerische Freiheit für | |
| einzelne Gebäude durch, so mussten sie sich doch einer ästhetisch | |
| autoritären Stadtplanung fügen. Paraden zum Tag der Arbeit lassen sich eben | |
| besser auf breiten Straßenachsen und zentralen Plätzen realisieren. | |
| ## Neonazis am Karl-Marx-Kopf | |
| Auch deswegen treffen sich heute noch gerne Neonazis am [2][Chemnitzer | |
| Nischel, dem tonnenschweren Karl-Marx-Kopf]. Um den legt sich mit | |
| Hotelhochhaus, Stadthalle und Büroriegel auf Zickzackgrundriss zwar eine | |
| geradezu brutalistische Spätmoderne, mit der rechte Kreise eigentlich nicht | |
| können, wetterte ja kürzlich die [3][AfD Sachsen-Anhalt mit Begriffen wie | |
| „entfremdet“ oder „menschenfeindlich“ gegen die Bauhaus-Moderne]. Aber … | |
| stadtplanerische Anlage eignet sich gut für autoritäre Auftritte. So sah es | |
| auch die SED in Ostberlin, als sie den Wiederaufbau des kriegszerstörten | |
| Chemnitz diktierte. Die neuen Hauptstraßen etwa sollten 7.000 Personen pro | |
| Stunde aufmarschieren lassen können, lernt man auf der Chemnitzer Tagung, | |
| auch dort, wo eben jener von Neutra aufgesuchte schöne Omnibusbahnhof | |
| steht. Der wurde erst vor Kurzem, nachdem der Putz an den schräg in die | |
| Höhe stechenden Pfeilern abgebröckelt war, gänzlich unter Schutz gestellt. | |
| Es sind also nicht mehr wie in den vergangenen Jahren nur einzelne | |
| Bürgerinitiativen und Brutalismus-Fans auf Instagram, die sich für diese | |
| ostmodernen Betonkreaturen einsetzen, sondern auch Behörden und Geldgeber. | |
| Und derzeit ersteht eine ganze Reihe öffentlicher Bau- und Kunstwerke der | |
| DDR-Moderne auf: die Hyparschale in Magdeburg, die Dresdner | |
| robotron-Kantine, das Pressehaus in Berlin, dessen Fassadenfries von | |
| DDR-Staatskünstler Willi Neubert nach dreißig Jahren hinter Werbetafeln | |
| wieder freigelegt wurde, und so weiter. | |
| Woher kommt dieser Turn hin zu der so lang vernachlässigten Architektur, 35 | |
| Jahre nach dem Fall der Mauer? Die Leute bräuchten einen zeitlichen Abstand | |
| zur DDR-Diktatur, vermutet Christian Hellmund vom Architekturbüro [4][gmp | |
| Gerkan], Marg und Partner. Er leitete die Sanierung von Ulrich Müthers | |
| Hyparschale in Magdeburg und dem Kulturpalast von Wolfgang Hänsch in | |
| Dresden. Sein Büro ließ selbst in der Vergangenheit für eigene Neubauten | |
| den Abriss ostmoderner Gebäude zu, seit einigen Jahren ist es scheinbar | |
| geläutert, kann es sich doch bei den Abrissobjekten um ziemlich tolle | |
| Architektur handeln. | |
| Aber an welcher Stelle ist man gerade gesellschaftlich in Sachen | |
| Auferstehung der DDR-Moderne? Kippt ihre späte Anerkennung vielleicht in | |
| eine Nostalgie um, vergisst man mit dem zeitlichen Abstand, dass diese | |
| Bauten auch Produkte eines repressiven, indoktrinären Staats waren? Denn | |
| das vermeintlich sachliche Bauen der Moderne ließ sich immer wieder in den | |
| Dienst von Ideologien stellen. | |
| ## Blut-und-Boden-Ieologie bei Ernst Neufert | |
| Das zeigt auch die Figur von Ernst Neufert, [5][dem Bauhäusler, der bei | |
| Albert Speer arbeitete] und 1936 mit der Erstveröffentlichung der | |
| Bauentwurfslehre einen bis in die heutige Architektur weltweit reichenden | |
| Normenkatalog erstellte. Ein echter Rationalisierer. Jetzt, während 35 | |
| Jahre Mauerfall gefeiert werden, zeigt die in der DDR aufgewachsene | |
| Künstlerin Andrea Pichl in der Nationalgalerie Hamburger Bahnhof seine | |
| sogenannten Behelfsheime, kleine, einfache Wohnhäuser zum Selberbauen für | |
| Luftkriegsbetroffene in NS-Deutschland. Ihr Anleitungstext von 1944 ist | |
| reine Blut-und-Boden-Ideologie: „Mittlerweile wird sich der Baugedanke und | |
| Bauwille immer mehr ausfüllen, weil er uns im Blute liegt“, heißt es zu | |
| Neuferts Behelfsheimen. Technisch und ästhetisch unterscheiden sie sich | |
| kaum von jenen Laubenhäuschen, die sich DDR-Bürger:innen in ihren | |
| Wochenendgarten stellten, noch heute sieht man sie vielerorts. | |
| Die Architektur der Moderne, sie ist wunderbar für Ideologien einnehmbar – | |
| manchmal braucht man nur das richtige Wording. Und die DDR-Moderne, sie | |
| steht nicht in einem luftleeren Raum. Wenn sie jetzt endlich sichtbarer | |
| wird, sollte auch ihre politische Ambivalenz zu erkennen sein. | |
| 9 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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