# taz.de -- Zygmunt Baumans Memoiren: Moralischer Sozialismus | |
> Die Memoiren des Soziologen Bauman sind als Buch erschienen. Kindheit und | |
> Jugend im Polen der Zwischen- und Nachkriegszeit bekommen viel Raum. | |
Bild: Denker der flüchtigen Moderne: Zygmunt Bauman, 2003 | |
Rund zehn Jahre [1][vor seinem Tod im Jahr 2017 war der polnisch-jüdische | |
Soziologe Zygmunt Bauman] schwer in die Kritik geraten. Er sei direkt nach | |
dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach Sozialist, sondern überzeugter | |
Stalinist gewesen. Als Offizier in den Reihen des Internationalen | |
Sicherheitskorps (Korpus Bezpieczeñstwa Wewnêtrznego, KBW), warf ihm der | |
polnische Historiker Bogdan Musial damals vor, sei er auch verantwortlich | |
für „Mord, Folter und Bespitzelung“, schließlich seien dies die | |
Kernaufgaben des Nachrichtendienstes gewesen. | |
Dass er diese Episode seines Lebens verschwiegen habe, machten ihm auch | |
andere zum Vorwurf. Zumindest die zweite Anschuldigung dürfte nun | |
entkräftet sein, denn in „Fragmente meines Lebens“, einer Sammlung | |
verschiedener biografischer Schriften Baumans, wird auch die unmittelbare | |
Nachkriegszeit ausführlich beschrieben. | |
An Kampfhandlungen war Bauman nach eigenen Aussagen nur ein einziges Mal | |
beteiligt, ansonsten saß er am Schreibtisch und gründete unter anderem eine | |
Fußballmannschaft. Was aber deutlich wird: Der Kommunismus erschien dem | |
späteren Soziologen damals, wie vielen anderen auch, als die Fortsetzung | |
der Prinzipien der Aufklärung. Am „Aufbau des Sozialismus“ wollte er sich | |
mit allen Mitteln beteiligen. | |
Waren seine ersten Bücher noch eindeutig von diesem Geist geprägt, setzte | |
sich erst später die Skepsis durch. Zygmunt Bauman ist sicherlich einer der | |
meistgelesenen Soziolog:innen der letzten Jahrzehnte, mit der | |
Soziologie des [2][Holocausts] in „Dialektik der Ordnung“ (1989, deutsch | |
1992) wurde er international bekannt. Seine Zeitdiagnosen, die sich erst | |
der Postmoderne und später dem, was er „flüchtige Moderne“ nannte, | |
widmeten, wurden weit über Soziologieseminare hinaus gelesen. | |
Obwohl der [3][Kritischen Theorie] nahestehend, gehörte er nie einer Schule | |
an und hat auch keine eigene begründet. Zu essayistisch sein Stil, zu | |
fundamental seine Abneigung gegenüber jeglichem Konformismus. „Ich hasse | |
Herden. Und Gesellschaften gegenseitiger Anbetung“, schreibt er an einer | |
Stelle mit Blick auf den akademischen Betrieb. | |
## „Holzstaub und Feuer“ | |
Das Buch ist allerdings weniger eine klassische Intellektuellenbiografie, | |
nur am Rande kommen Namen und Theorieansätze anderer vor. Vielmehr taucht | |
der 1925 geborene Bauman hier tief in seine Kindheit und Jugend im Polen | |
der Zwischen- und [4][Nachkriegszeit] ein, obwohl und gerade weil das | |
Familienalbum für „einen polnischen Juden“ wie ihn nach „Holzstaub und | |
Feuer, nicht nach Leben“ duftete. | |
Für den nicht religiösen Soziologen ist Zion, ähnlich wie der Kommunismus | |
der frühen Jahre, ein Horizont der Gerechtigkeit und Freiheit. Bauman lässt | |
aber auch keine Zweifel daran, dass ein großer Teil seines Jüdischseins dem | |
Antisemitismus zu verdanken ist: Erst die antisemitische Hetze von Lehrern, | |
Mitschüler:innen und Gesellschaft machte ihn zum „Mitglied einer | |
Gruppe“. | |
Antisemitismus zieht sich durch alle Teile der Erzählungen. Als „Zionist“ | |
wird er aus dem KBW entlassen, der Vorwurf des „Zionismus“ kostet ihn 1968 | |
auch seine Professur an der Universität Warschau. Er ging mit seiner | |
Familie nach Israel, ab 1971 lebten sie gemeinsam in Leeds. | |
Er beschreibt sich selbst immer wieder als polnischen Juden: das | |
„Polnischsein“ äußert sich in zahlreichen Bezugnahmen auf die | |
Geistesgeschichte und Literatur des Landes, aber auch darin, „den | |
polnischen Antisemitismus mehr zu hassen als den Antisemitismus jeder | |
anderen Nation“. Als Bauman 1998 der Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am | |
Main überreicht wurde, schrieb die zweitgrößte polnische Tageszeitung, | |
Rzeczpospolita, der Preis sei an den „israelischen Soziologen“ Bauman | |
gegangen. | |
## Skepsis gegenüber Kollektiven | |
Die Schilderung seiner Lebenserfahrungen machen auch sein soziologisches | |
Werk verständlicher: Seine Skepsis gegenüber Kollektiven mündet in ein | |
Plädoyer für den „moralischen Impuls“. Diese aus seiner Sicht grundlegend | |
menschliche Regung sah er etwa durch die Nationalsozialist:innen | |
ausgeschaltet. Ihr baute er in „Postmoderne Ethik“ (1993, deutsch 1996) ein | |
theoretisches Fundament. | |
Er beschreibt seine Abkehr vom Kommunismus als Prozess von „beschämender | |
Langsamkeit“, der ihn schließlich zu etwas fraglichen Thesen im Stile der | |
Totalitarismustheorie verleitet: Zwischen dem Kampf um „rassische Reinheit“ | |
und jenem um „Klassenreinheit“ will er kaum unterscheiden. | |
Die hier versammelten lebensgeschichtlichen Texte, die Bauman zu | |
verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form verfasst hat, sind von | |
seiner Biografin Izabela Wagner mit Einverständnis der Familie | |
zusammengestellt worden. Sie vermitteln zugleich, dass er das Ideal | |
sozialer Gerechtigkeit nie aufgab. Sein Insistieren auf individueller | |
Freiheit, die er als Verantwortung für das, „was uns allen gemeinsam | |
widerfahren ist“, begreift, blieb stets gepaart mit dem, was er seinen | |
„lebenslangen Sozialismus“ nennt. | |
18 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Kastner | |
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