| # taz.de -- Gedichte von Marianna Kijanowska: Schmerz ist ein Ort im Morgen | |
| > Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“: Die ukrainische Lyrikerin Marianna | |
| > Kijanowska widmet den Opfern des Massakers von Babyn Jar ein | |
| > wortgewaltiges Denkmal. | |
| Bild: Schwierige Erinnerungskultur: lange verschwieg man die jüdische Herkunft… | |
| Babyn Jar: Der Name dieses Tals steht heute für einen Massenmord an | |
| jüdischen Menschen. Im [1][Tal Babyn Jar, das auf dem Gebiet der heutigen | |
| ukrainischen Hauptstadt Kyjiw liegt, fand am 29. und 30. September 1941 das | |
| größte Einzelmassaker des Holocaust]s statt („Holocaust durch Kugeln“), | |
| 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden von NS-Sondereinheiten | |
| ermordet und in eine Schlucht geworfen. Lange gab es kein Gedenken in der | |
| Sowjetunion. | |
| Als 1976 ein Denkmal in Babyn Jar errichtet wurde, verschwieg man die | |
| jüdische Herkunft der Opfer, wegen des Antisemitismus in der UdSSR und weil | |
| sonst auch Verbrechen der Roten Armee in den Fokus gerückt worden wären. | |
| Erst in der Zeit der Unabhängigkeit der Ukraine entwickelte sich eine | |
| Erinnerungskultur. | |
| Ein würdiges, ein wortgewaltiges Denkmal hat die ukrainische | |
| Schriftstellerin und Lyrikerin Marianna Kijanowska den gestorbenen Menschen | |
| nun errichtet. „Babyn Jar. Stimmen“, heißt es. Die Dichterin aus Lwiw hat | |
| 67 Gedichte verfasst, fast alle imaginieren die letzten Lebensstunden der | |
| (hier fiktiven) Opfer von Babyn Jar, ihre inneren Monologe auf dem Gang in | |
| den Tod. Kijanowska zeigt darin, dass es gerade die lyrische und | |
| fragmentarische Sprache ist, mit der der Horror des Holocausts vielleicht | |
| in Worte zu fassen ist. | |
| Dies gelingt ihr, weil sie den Opfern Namen und eine jüdische Identität | |
| gibt. „alle heißt es treibt man nach babyn jar und weil ich lisa bin / ließ | |
| ich sie alle hinter mir einen hübschen ort haben sie / gefunden die | |
| schlucht“, heißt es in einem Stream of Consciousness. | |
| In weiteren werden jüdische Traditionen angesprochen, jüdische Namen | |
| erwähnt: „rabbi levi yitzchak schneerson sagte beim besuch in kyjiw / zu | |
| seinem vater schmerz / ist ein ort im morgen / ein ort den du mitnimmst ins | |
| morgen“. Zeilensprünge sind ein auffälliges Merkmal der Gedichte, der | |
| Verzicht auf Satzzeichen ebenfalls. | |
| ## Den Auslöschungswillen rhetorisch verstärken | |
| Kijanowska geht meisterlich mit Sprache und Stilmitteln um, Übersetzerin | |
| Claudia Dathe ist eine großartige Übertragung ins Deutsche gelungen. Die | |
| Dichterin spielt mit Wortbedeutungen oder arbeitet mit Onomatopoesie, wenn | |
| sie glaubt, die Situation ist nur so sprachlich zu fassen. Auf dem | |
| Bahngleis wartet das lyrische Ich, bis es eingepfercht wird in den Waggon, | |
| bis es in die Ungewissheit, in den Tod geht („aus den bahnhofsspatzen | |
| werden zufällige ziele / das maschinengewehr spielt ihnen auf tra ta ta ta | |
| tra ta ta ta alles / schwindet / der zug hält an tru tu tu“). | |
| Ein andermal ist die Wiederholung das Mittel der Wahl, um das | |
| Unbegreifliche zu begreifen. Manchmal überliest man kleine Irritationen | |
| fast, wenn etwa aus „vernichten“ „vernichtsen“ wird, um den | |
| Auslöschungswillen der Nazis rhetorisch zu verstärken. | |
| Es gibt jede Menge Referenzen in den Bewusstseinsströmen, auffällig sind | |
| die Verweise auf den Tanach („und estherchen fragt seine mama: muss ich | |
| jetzt sterben?“). [2][Die vorherigen Katastrophen für jüdisch-ukrainische | |
| Menschen] werden ebenfalls verhandelt, Kijanowska spielt auf [3][den | |
| Holodomor (1932/33)] und die Stalin’schen Repressionen und Säuberungen 1937 | |
| an („hab dreiunddreißig knapp überlebt / und siebenunddreißig gerade mal so | |
| in der brust“). | |
| Dieser Gedichtband könnte auch ein Anlass sein, die bislang wenig | |
| rezipierte Literatur über Babyn Jar, über jüdisches Leben in der Ukraine | |
| aus der Versenkung zu holen. Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht „Babij Jar“ | |
| (1961), übersetzt von Paul Celan, und [4][Katja Petrowskajas Erzählungen | |
| „Vielleicht Esther“ (2014)] dürften hierzulande noch am bekanntesten sein. | |
| Die darüber hinaus im Nachwort genannten Prosa- und Lyrikwerke wie etwa | |
| Mykola Bazhans Gedicht „Schlucht“ (1943) und Anatoli Kusnezows Roman „Bab… | |
| Jar. Die Schlucht des Leids“ (1966) sind heute aber wohl nur noch | |
| Kenner:innen bekannt. Dabei sollten sie, ähnlich wie Celans „Todesfuge“ | |
| (1947), selbstverständlicher Teil einer Erinnerungskultur sein. | |
| 11 Aug 2024 | |
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| [1] /Raketen-auf-die-Gedenkstaette-Babyn-Jar/!5838939 | |
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| [3] /Streit-um-ukrainisches-Holodomor-Museum/!5957393 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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