# taz.de -- Völkermord-Gedenken in Holodomor-Museum: Als Stalin die Ukraine au… | |
> Am Samstag gedenken die Ukrainer:innen der Millionen Opfer der | |
> sowjetischen „Tötung durch Hunger“. Ein Besuch im Holodomor-Museum. | |
Bild: Baustelle Erinnerungskultur: Blick auf den zweiten Teil der Holodomor-Ged… | |
KYJIW taz | Von oben fällt Licht auf den Glasquader in der Mitte des | |
Raumes. Er ist gefüllt mit Weizenkörnern. Man kann mit der Hand | |
hineingreifen, das Getreide fühlen. Trocken, fest und glatt. Man kann auch | |
fühlen, wie schnell es durch die Finger rinnt. In der Kyjiwer Gedenkstätte | |
für den Holodomor taucht das Motiv des Korns immer wieder auf. | |
Die Gedenkstätte widmet sich einer menschengemachten Katastrophe: „Tötung | |
durch Hunger“ bedeutet das ukrainische Wort Holodomor. Es bezeichnet eine | |
Hungersnot mit mehreren Millionen Todesopfern in einem Land, in dem es | |
eigentlich keine Hungersnot geben kann. Die Ukraine verfügt mit ihren | |
großen Gebieten mit Schwarzerde über ausgezeichnete Böden und kann ein | |
Mehrfaches ihrer eigenen Bevölkerung ernähren. Nicht umsonst haften dem | |
Land Begriffe wie Kornkammer oder Brotkorb an. | |
Die meisten [1][Holodomor-Opfer starben in den Jahren 1932 und 1933 vor | |
allem in ländlichen Gebieten]. Verantwortlich war die vom sowjetischen | |
Machthaber Josef Stalin angeordnete Kollektivierung. Stalin ließ damals | |
massenhaft Getreide, Vieh und Lebensmittel konfiszieren. Weite Gebiete | |
wurden abgeriegelt. Menschen, die sich auf der Suche nach Nahrung in andere | |
Orte begaben, wurden erschossen. Parallel wurden Hunderttausende verhaftet | |
und in Zwangsarbeitslager deportiert, die intellektuelle Elite wurde | |
ermordet. | |
Es gibt Historiker, die sagen, der Begriff Genozid sei dafür nicht | |
angemessen, weil damals auch Millionen Kasachen und Russen den | |
Zwangskollektivierungen zum Opfer fielen. Andere argumentieren, dass der | |
Hunger auch ein Mittel war, um die Bauernschaft in der damals ländlich | |
geprägten Ukraine als Träger der ukrainischen Kultur zu schwächen. Schon | |
[2][Raphael Lemkin, der den Begriff „Völkermord“ prägte], hatte den | |
Holodomor als Beispiel für einen sowjetischen Völkermord und als Versuch | |
der Ausrottung der ukrainischen Nation bezeichnet. | |
## Erst spät als Genozid anerkannt | |
2006 hatte das ukrainische Parlament den Holodomor als Völkermord | |
anerkannt. Am vierten Samstag im November wird in der Ukraine der | |
entsprechende Gedenktag begangen. Inzwischen sehen 34 weitere Staaten die | |
Hungersnot als Völkermord. Auch der Deutsche Bundestag hat 2022 mit breiter | |
Mehrheit dafür gestimmt, sie als Genozid einzuordnen. | |
Das Holodomor-Museum befindet sich auf dem westlichen Dnipro-Ufer auf den | |
Hügeln zwischen dem Regierungsviertel und dem berühmten Höhlenkloster | |
Lawra. Wer zur Gedenkstätte will, kommt zunächst an einer Skulptur vorbei. | |
Die Figur eines Mädchens, abgemagert, barfuß, hält eine Hand voll Ähren und | |
presst sie an ihre Brust. Im Kreis um die Skulptur sind Mühlsteine | |
angeordnet. Der Boden ist mit Steinen in langen Reihen gepflastert. „Sie | |
symbolisieren die Furchen eines Ackers“, erklärt die Museumsführerin Daria. | |
Hinter der Skulptur führt der Weg auf eine weiße Betonstele zu, die eine | |
Kerze symbolisieren soll. Vor der Stele führt eine Treppe zwischen | |
schwarzen Steinen in die Tiefe, zum Eingang. Mit jedem Schritt hinab wird | |
die Atmosphäre bedrückender. Der unterirdische Ausstellungsraum ist | |
kreisrund und spärlich beleuchtet. Eine Frauenstimme ist zu hören. Sie | |
gehört zu einem Video, das an die Wand projiziert wird. | |
Der Zeitzeugenbericht einer Überlebenden, die mit ansehen musste, wie in | |
ihrer Familie einer nach dem anderen stirbt. Im Halbdunkel fallen die | |
wenigen angestrahlten Exponate umso mehr ins Auge. Für jede der | |
ukrainischen Regionen gibt es ein Podest. Darauf liegen jeweils ein bis | |
zwei Bücher mit den Namen der Hungeropfer. Manche so dick, dass man sie | |
kaum heben kann. | |
## Raum für Trauer lassen | |
Etwa ein Dutzend Besucher sind an diesem frühen Sonntagnachmittag in der | |
Ausstellung. Eine ältere Frau ist mit einem Jugendlichen gekommen. Sie | |
zeigt auf landwirtschaftliche Geräte wie zeitgenössische Pflüge und Eggen, | |
die seinerzeit konfisziert wurden. Dann legt sie ihren Arm um den Jungen. | |
In der Gedenkstätte will man sich dem Thema mit einem emotionalen Zugang | |
nähern. Raum für Trauer lassen. „Fast jede Familie im Land hat im Holodomor | |
jemanden verloren“, erzählt Museumsführerin Daria. Allein die Liste der | |
bekannten Namen zähle drei Millionen Opfer. Doch nicht alle Toten wurden | |
dokumentiert. Teils war einfach niemand mehr da, um das zu tun. Oder die | |
kommunistische Diktatur wünschte keine Spuren. Die Ergebnisse der | |
Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt. | |
Direktorin Lesia Hasydzhak empfängt an einem Schließtag in der | |
Gedenkstätte, die halb in den Hang über dem Ufer des Dnipro hineingebaut | |
ist. Die 42-Jährige ist seit anderthalb Jahren die geschäftsführende | |
Direktorin der Gedenkstätte. „Die Verbrechen sind 90 Jahre her“, sagt sie. | |
Es gebe kaum noch lebende Zeitzeugen. In den meisten ukrainischen Familien | |
wisse man noch, wer seinerzeit Eltern oder Geschwister verloren habe. „Als | |
Historikern weiß ich, je mehr Zeit vergeht, um so wichtiger wird die | |
Dokumentation.“ Deshalb sei es wichtig, dass die Gedenkstätte um ein | |
richtiges Museum erweitert werde. | |
Die Zukunft sieht man einige Meter weiter unten am Hang. Dort entsteht das | |
große Museum, der Rohbau ist schon fertig. Die Dachkonstruktion erinnert an | |
ausgebreitete Flügel. Darunter soll die neue Dauerausstellung unterkommen. | |
Sie soll sich damit auseinandersetzen, wie der Völkermord möglich wurde, | |
wie er ablief, wie Menschen überleben konnten. „Zu Beginn und am Ende der | |
Ausstellung werden die Stimmen der Zeitzeugen und ihrer Nachkommen einen | |
Dialog erzeugen“, steht im Konzept. | |
## Auch heute geht es um Korn | |
„Es geht nicht um eine Opfergeschichte, sondern darum, aus der Geschichte | |
zu lernen und zu zeigen, was sie für unsere heutige Unabhängigkeit | |
bedeutet“, sagt Hasydzhak. Ihre Schlussfolgerung mit Blick auf den | |
russischen Angriffskrieg ist klar: „Wir haben leider keinen anderen Weg, | |
als uns zu wehren und zu siegen.“ Nach dem Krieg wünsche sie sich ein | |
internationales Tribunal, denn „Straflosigkeit führt zu Wiederholung“. Die | |
Sowjetunion habe Millionen von Leben ruiniert, nicht nur in der Ukraine. | |
„Die Deportationen von Tataren, Tschetschenen, Balten. Die Invasionen in | |
Ungarn, der Tschechoslowakei und Afghanistan“, zählt Hasydzhak auf. „Die | |
Liste ist lang.“ | |
Wie genau es mit dem Neubau weitergeht ist allerdings umstritten. Es geht | |
ums Geld. Ende Juli hatte Präsident Selenski eine Haushaltsvorlage des | |
Parlaments zurückgewiesen und damit umgerechnet 15 Millionen Euro | |
blockiert, die für die Fertigstellung vorgesehen waren. Die Armee brauche | |
das Geld derzeit dringender. Eine Lösung gibt es noch nicht. Die Armee sei | |
wichtig, sagt Hasydzhak, aber die Kultur eben auch. | |
Die Arbeiten am Museum hatten bereits 2008 begonnen. Seinerzeit regierte in | |
Kyjiw Präsident Viktor Juschtschenko, der nach der Orangenen Revolution | |
gewählt worden war. Seine Außenpolitik richtete sich gen Europa, weg von | |
Russland. Das Gedenken an den Holodomor bekam einen größeren Stellenwert. | |
Unter seinem prorussischen Nachfolger Wiktor Janukowitsch wurden die | |
Arbeiten gestoppt. Erst 2017 ging es weiter. | |
Korn spielt auch im aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine | |
eine Rolle. Die russische Armee blockierte monatelang die Ausfuhr von | |
Getreide durch die ukrainischen Häfen. Damit löste sie zwar keine | |
Hungersnot aus, sorgte aber für weltweit steigende Preise, die besonders | |
Menschen in armen Ländern bedrohen. Gleichzeitig raubt Russland Getreide in | |
den besetzten Gebieten und exportiert es. „Da gibt es Parallelen“, sagt | |
Hasydzhak. Damals wie heute brauche Russland das Getreide nicht für die | |
eigene Bevölkerung. | |
In den 1930er Jahren wurde Getreide exportiert, um mit den Deviseneinnahmen | |
den Aufbau der Schwerindustrie zu finanzieren. „Aber vor allem ging und | |
geht es um den politischen Druck“, sagt Hasydzhak. „Damals wurde den | |
Menschen in der Ukraine direkt physisch geschadet.“ Heute sorge die | |
Zerstörung von Infrastruktur und Vorratslagern für [3][wirtschaftlichen | |
Schaden]. | |
Über die Webseite des Holodomor-Museums in Kyjiw kann man sich für eine | |
Online-Führung und ein anschließendes Gespräch mit Museumsmitarbeitenden | |
anmelden: [4][holodomormuseum.org.ua] | |
25 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Holodomor-in-der-Sowjetunion/!5895422 | |
[2] /Historikerin-Tali-Nates-ueber-Voelkemorde/!5874556 | |
[3] /Russische-Getreidelieferungen/!5946240 | |
[4] https://holodomormuseum.org.ua/en/ | |
## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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