# taz.de -- Nach fünf Monaten Gegenoffensive: „Pattsituation“ in der Ukrai… | |
> Der höchste General der Ukraine zieht eine schonungslose Bilanz der | |
> Offensiven zur Befreiung besetzter Gebiete. Aber es gibt auch Erfolge. | |
Bild: Ein Soldat in eine verlassenen russischen Stellung beim befreiten Dorf Ro… | |
BERLIN taz | Fünf Monate nach ihrem Beginn ist die Gegenoffensive der | |
Ukraine zur Befreiung russisch besetzter Gebiete offenbar zum Stillstand | |
gekommen. Oberkommandierender Walery Saluschny hat [1][in der aktuellen | |
Ausgabe der britischen Wochenzeitschrift Economist] von einer | |
„Pattsituation“ gesprochen. „Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein | |
technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt“, | |
sagte der General. „Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen | |
Durchbruch geben“. | |
Präsident Wolodimir Selenski wies am Samstag den Begriff „Pattsituation“ | |
zurück, aber bestätigte bei seiner Pressekonferenz mit der nach Kyjiw | |
gereisten EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen: „Die Zeit ist | |
verstrichen, die Menschen sind müde.“ Am Vortag, als Saluschnys | |
Einschätzung publik wurde, hatte Selenski in seiner [2][täglichen | |
Botschaft] erklärt: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ukraine siegen | |
wird.“ | |
Man könnte auch, wie es Saluschny in einem eigenen Beitrag für den | |
Economist getan hat, von einem „Übergang zum Stellungskrieg“ sprechen. Aber | |
das ändert nichts daran, dass die Ukraine die Ziele nicht vollständig | |
erreicht hat, mit denen sie am 4. Juni [3][zum Angriff übergegangen] war. | |
Damals wollten die ukrainischen Streitkräfte im Süden des Landes die | |
russischen Verteidigungslinien durchbrechen und in Richtung Asowsches Meer | |
durchstoßen, um die russisch besetzte Krim von den russisch besetzten | |
Teilen des Donbass zu trennen. | |
Fünf Monate später beschränken sich die Rückeroberungen durch die Ukraine | |
auf gut 360 Quadratkilometer, weniger als die halbe Fläche von Berlin. Die | |
Hälfte davon erfolgte in den ersten vier Wochen, vom Rest fast alles bis | |
Anfang September. | |
## Keine Lufthoheit und endlose Minenfelder | |
Größere dauerhafte ukrainische Geländegewinne gab es lediglich an zwei | |
Stellen, und nur bei Orichiw wurde die erste russische Verteidigungslinie | |
komplett durchbrochen. Aber auch hier beschränkt sich der ukrainische | |
Vormarsch auf elf Kilometer. An 95 Prozent der 1.000 Kilometer langen | |
Frontlinie herrscht ohnehin Stillstand. | |
Es gibt dafür viele Gründe. Die Ukraine hat keine Lufthoheit an der Front, | |
und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, unter diesen Umständen gigantische | |
Minenfelder zu überwinden. Sie sind bis zu 20 Kilometer tief, ihre Räumung | |
gleicht einer Sisyphusarbeit, schreibt General Saluschny: „Abgesichert | |
werden sie von Aufklärungsdrohnen, die unsere Minenräumer aufspüren und das | |
Feuer auf sie richten. Bei erfolgreichen Minenfeldüberwindungen stellt der | |
Feind Minenfelder schnell durch ferngesteuerte Systeme wieder her.“ | |
Die Ukraine ihrerseits wehre russische Angriffe auf die gleiche Weise ab. | |
„Dies führt dazu, dass die Offensivoperationen beider Parteien mit | |
erheblichen Problemen und großen Verlusten an Material und Personal | |
stattfinden.“ | |
Das bedeutet nicht, dass die Ukraine nichts erreicht hätte. Russland hat | |
bei der Abwehr ukrainischer Angriffe viel mehr Verluste erlitten als die | |
Ukraine; normalerweise tut das der Angreifer. Die russischen Truppen | |
mussten bereits den Großteil ihrer Reserven aus dem Hinterland | |
mobilisieren. | |
Nur massiver [4][Rüstungsnachschub aus Nordkorea] hat einen breiteren | |
Zusammenbruch der russischen Kapazitäten gestoppt. Nordkorea hat Russland | |
innerhalb weniger Wochen mehr Munition geliefert als sämtliche EU-Staaten | |
der Ukraine seit Jahresbeginn, trotz gegenteiliger Ankündigungen aus | |
Brüssel. | |
## Russische Angriffe stecken ebenfalls fest | |
Russland hat seinerseits zwei Offensiven gestartet, die aber ebenfalls | |
nicht weit gekommen sind: im Sommer bei Kupiansk im nördlichsten | |
Frontbereich und im Herbst bei Awdijiwka nordwestlich der russisch | |
besetzten Millionenstadt Donezk. Insgesamt rund 100 Quadratkilometer hat | |
die Ukraine in diesen Bereichen seit Juni an Russland verloren. | |
Die seit 10. Oktober währenden schweren [5][Kämpfe rund um Awdijiwka] | |
gelten als die heftigsten seit der Schlacht um Bachmut im Frühjahr. [6][Die | |
New York Times schrieb vergangene Woche] von der „vielleicht für Russland | |
verlustreichsten Schlacht des Krieges“. | |
Vom Ziel, das seit 2014 als Frontstadt gegen Donezk befestigte Awdijiwka zu | |
umzingeln, scheinen die russischen Angreifer weit entfernt. General | |
Saluschny berichtet: „Am Tag, als ich da war, sah ich auf unseren Monitoren | |
140 russische Fahrzeuge in Flammen – innerhalb von vier Stunden zerstört, | |
nachdem sie in Reichweite unserer Artillerie geraten waren.“ | |
Der höchste ukrainische General zieht aus seinen Erfahrungen [7][einen | |
klaren Schluss]: „Wir sehen alles, was der Feind tut und er sieht alles, | |
was wir tun.“ Um aus dieser Lage auszubrechen und aus dem Stellungskrieg | |
zurück in den Bewegungskrieg zu gelangen, brauche die Ukraine „Lufthoheit, | |
viel bessere Kapazitäten zur elektronischen Kriegsführung und | |
Artillerieortung, neue Technologie zur Minenüberwindung und die Fähigkeit, | |
mehr Reserven zu mobilisieren und zu trainieren.“ | |
Dazu kämen Veränderungen in der Kommandostruktur. Selenski verfügte am | |
Samstag bereits Umbesetzungen an der Spitze der Streitkräfte. | |
## Neue Offensivfront bei Cherson | |
Zusätzlich besteht kurzfristig die Option einer Ausweitung der Kampfzone. | |
In den vergangenen Wochen gab es eine Reihe spektakulärer ukrainischer | |
Raketenangriffe auf russische Marinestützpunkte auf der Krim und russische | |
Luftwaffenstützpunkte tief hinter der Front, dank neuer Raketensysteme aus | |
den USA und Großbritannien mit größerer Reichweite. Die Meereshoheit über | |
das westliche Schwarze Meer und damit über die Exportrouten für | |
ukrainisches Getreide hat Russland bereits verloren. | |
Aktuell zeichnet sich auch eine neue ukrainische Offensivfront im | |
westlichsten Frontbereich bei Cherson ab. Verstärkt überqueren ukrainische | |
Einheiten den Dnipro-Fluss. Derzeit haben sie sich im Ort Krynky | |
festgesetzt, rund 35 Kilometer flussaufwärts von Cherson auf dem russisch | |
besetzten Südufer des Dnipro. | |
Und nicht zuletzt setzt die Ukraine auf einen Ausbau der eigenen | |
Rüstungsproduktion, um die Abhängigkeit von möglicherweise wankelmütigen | |
westlichen Verbündeten zu verringern. Nach der Bildung eines Joint Ventures | |
zwischen dem deutschen Rüstungshersteller Rheinmetall und dem staatlichen | |
ukrainischen Rüstungskonzern Ukoroboronprom kündigte Außenminister Dmytro | |
Kuleba bei einem Treffen mit Rheinmetall in Berlin am vergangenen Freitag | |
einen Ausbau der Munitionsfertigung in der Ukraine an. | |
[8][Am Sonntag berichteten ukrainische Medien] über die Entwicklung | |
ukrainischer Raketen mit 700 bis 1.000 Kilometern Reichweite. Die Ukraine | |
will außerdem ihre eigene Drohnenproduktion erweitern. | |
6 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.economist.com/europe/2023/11/01/ukraines-commander-in-chief-on-… | |
[2] https://twitter.com/ZelenskyyUa/status/1720166347898806702 | |
[3] /18-Monate-Krieg-in-der-Ukraine/!5955733 | |
[4] https://frontelligence.substack.com/p/counting-the-rounds-north-korean | |
[5] /Aktuelle-Lage-in-der-Ukraine/!5963634 | |
[6] https://www.nytimes.com/2023/10/30/world/europe/ukraine-avdiivka.html | |
[7] https://www.economist.com/by-invitation/2023/11/01/the-commander-in-chief-o… | |
[8] https://euromaidanpress.com/2023/11/05/military-ukraine-already-attacked-70… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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