# taz.de -- Ukrainische Exil-Community in Berlin: Von Schuld und Schokolade | |
> Der Krieg gegen die Ukraine bekommt immer weniger Aufmerksamkeit. Die | |
> Aktivist:innen von Vitsche halten dagegen. | |
Bild: Milka im Blick: Aktivist:innen Vlada Vorobiova, Krista-Marija Läbe und P… | |
Ein Donnerstagmorgen Mitte November. Das politische Berlin ist auf dem Weg | |
zur Arbeit, in den Straßen im Regierungsviertel staut sich der Verkehr. Am | |
Rand der Wiese vor dem Reichstag stehen knapp 30 Menschen, die meisten | |
Mitte zwanzig. Viele haben sich blau-gelbe Fahnen wie Umhänge umgebunden. | |
Eine Frau hält ein Bild zerbombter Häuser hoch, eine andere ruft in ein | |
Megafon: „Taurus jetzt! Taurus jetzt!“ | |
Ein Polizist tritt auf die Gruppe zu. Die Kundgebung sei zu kurzfristig | |
angemeldet worden, es gebe keine Erlaubnis, innerhalb der Bannmeile um das | |
Parlament zu demonstrieren: „Bitte gehen Sie auf die andere Straßenseite. | |
Dort dürfen Sie das.“ Ein wenig murrend folgen die Protestierenden der | |
Aufforderung. Noch einmal zehn Meter weiter entfernt vom Reichstag stellen | |
sie sich wieder auf. | |
Deutschland redet an diesem Novembermorgen über den Warnstreik der | |
Lokführer, das Milliardenloch im Haushalt, die Krise der Ampel, die | |
israelische Armee in Gaza. Die Lage in der Ukraine kommt in den | |
Radionachrichten ganz am Ende. Der große Krieg im Osten Europas ist in der | |
deutschen Medienöffentlichkeit auf die hinteren Plätze gerutscht. | |
## Düstere Aussichten an der Front | |
Dazu kommt die militärische Lage: Die Erfolge der ukrainischen | |
Gegenoffensive sind weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das hat | |
auch [1][der oberste ukrainische General Walerij Saluschnyj] eingeräumt. | |
Die Aussichten für den Winter sind düster. Russland fährt seine Rüstung | |
weiter hoch, die EU scheitert dagegen am selbstgesteckten Ziel, der Ukraine | |
bis kommenden März eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu | |
stellen. | |
Und in der deutschen Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern | |
herrscht Stillstand. Die Argumente sind alle ausgetauscht, Großbritannien, | |
Frankreich und die USA haben weitreichende Waffen geliefert, das Kanzleramt | |
will das weiterhin nicht, dabei könnten die Taurus der Ukraine helfen, | |
russische Versorgungslinien zu kappen. | |
Wie blicken Vertreter der ukrainischen Community in Deutschland auf diese | |
Situation? Und wie gehen sie mit der gesunkenen Aufmerksamkeit und den | |
düsteren Aussichten um? | |
Die Organisation [2][„Vitsche – Vereinigung von Ukrainer*innen in | |
Deutschland“] hat zu dem Protest im Regierungsviertel aufgerufen. Im | |
Bundestag soll an diesem Vormittag mal wieder über die Marschflugköper | |
diskutiert werden. Die Unionsfraktion hat einen Antrag auf sofortige | |
Lieferung eingebracht. Er wird später [3][in den Auswärtigen Ausschuss | |
überwiesen werden], Aussichten auf eine Mehrheit im Parlament hat er nicht. | |
## Es geht auch um Bilder | |
Auf einem Fahrrad rollt ein Mann mit Kind im Kindersitz an der Gruppe der | |
Demonstrierenden vorbei. Er hebt seine rechte Faust als Zeichen der | |
Solidarität. „Wir leben hier in Sicherheit, deshalb müssen wir alles dafür | |
geben, dass nicht in ein paar Jahren auch hier 25-Jährige in den Krieg | |
ziehen müssen“, sagt eine junge Frau mit weißer Wollmütze ins Megafon. | |
„Wenn Russland Erfolg in der Ukraine hat, wird es nicht aufhören.“ | |
Die Frau mit der Wollmütze heißt Krista-Marija Läbe. Sie ist Sprecherin von | |
Vitsche. „Wir wissen, dass es auch andere Kriege, auch anderes Leid gibt“, | |
sagt sie wenig später über die abnehmende Aufmerksamkeit der | |
Öffentlichkeit. „Aber die Welt darf die Ukraine nicht vergessen.“ | |
Bei der kleinen Demo vorm Reichstag gehe es vor allem auch darum, Bilder | |
für die Social-Media-Kanäle zu produzieren. „Es ist einfach eine | |
Möglichkeit, weiter Aufmerksamkeit auf dem Thema zu halten.“ | |
Ein paar Tage später sitzt Läbe mit einigen Mitstreitern im Büro von | |
Vitsche, sie planen die nächsten Aktionen. In Kreuzberg hat die | |
Organisation in einem alten Backsteingebäude einen Raum in einer | |
Coworking-Etage angemietet. Vitsche, das sind vor allem junge | |
Ukrainer:innen – viele leben bereits seit Jahren in Deutschland, aber es | |
engagieren sich hier auch jene, die nach dem 24. Februar 2022 nach Berlin | |
geflohen sind. | |
## Schuldgefühle, weil man selbst in Sicherheit ist | |
Läbe ist 26 Jahre alt. Sie hat eine ukrainische Mutter und einen deutschen | |
Vater. Geboren ist sie in Ternopil, im Westen der Ukraine. Mit drei Jahren | |
kam sie nach Deutschland, ist in der Oberpfalz aufgewachsen, studierte dann | |
in Berlin. Heute arbeitet sie als Marketingmanagerin, engagiert sich als in | |
ihrer Freizeit als Vitsche-Sprecherin. „Ich habe lange nach Kontakten zur | |
ukrainischen Community gesucht, weil es Teil meiner Identität ist“, erzählt | |
sie. „Die habe ich erst nach Beginn des großen Kriegs gefunden, weil ich | |
bei Vitsche auf Menschen mit denselben Erfahrungen getroffen bin.“ | |
Es ist der Kontrast zwischen dem geregelten Alltag in Deutschland und jenem | |
der Familienmitglieder und Freunde, die in einem Land leben, wo auch in | |
Dörfern und Städten abseits der Front jederzeit eine russische Rakete | |
Menschen töten kann. Und wo jeder jemanden kennt, der in der Armee kämpft. | |
Mit „Survivor Guilt“ hätten sie alle hier auf die eine oder andere Weise zu | |
ringen, sagt Läbe. Mit Schuldgefühlen, weil man selbst in Sicherheit lebt. | |
Die Antwort der meisten darauf: sich noch mehr engagieren. | |
Mit Läbe am Tisch sitzen Vlada Vorobiova und Pavlo Melnyk. Beide sind | |
Mitgründer von Vitsche, waren bereits bei den ersten Demos im Januar 2022 | |
dabei, als Russland immer mehr Truppen an den Grenzen zur Ukraine | |
zusammenzog. Vlada Vorobiova kommt aus Charkiw, ihr Vater zog vor sieben | |
Jahren mit ihr nach Berlin. Sie machte ihr Abitur, begann ein Studium. | |
„Aber als der große Krieg losging, merkte ich, dass ich mich nicht auf so | |
abstrakte Dinge wie Philosophie und Kunst konzentrieren konnte.“ Seitdem | |
arbeitet sie in einer ukrainischen Bar, organisiert die Demos von Vitsche, | |
hilft, wo sie kann. | |
Pavlo Melnyk kam vor sieben Jahren zum Wirtschaftsstudium nach Worms, bekam | |
danach einen Job als Produktmanager bei einem Softwarekonzern. „Ich werde | |
öfters von internationalen Freunden gefragt: Was ist eigentlich in der | |
Ukraine los? Geht das Kämpfen noch weiter?“, erzählt er. „Das ist | |
schmerzhaft, denn es ist ja schlimmer denn je.“ | |
Und trotzdem: Wenn sie auf die deutsche Debatte seit Kriegsbeginn blicken, | |
sind sie sich am Tisch einig, dass es Fortschritte gegeben hat. „Am Anfang | |
wurde sehr viel über die Ukraine gesprochen, ohne eine ukrainische Stimme“, | |
sagt Krista-Marija Läbe. „Und es redeten Leute, die überhaupt keine Ahnung | |
von dem Land hatten. Das hat sich verändert.“ | |
Aber ja, sie hörten immer wieder auch vermeintlich gut gemeinte Ratschläge, | |
die Ukraine solle am besten aufhören zu kämpfen. „Dann jedoch hört die | |
Ukraine auf zu existieren“, sagt Läbe. „Sie hat keine andere Wahl, als | |
weiterzukämpfen.“ | |
Im ersten Jahr hat Vitsche noch direkt humanitäre Hilfe vor Ort | |
organisiert. Das überlassen sie mittlerweile Partnerorganisationen, für die | |
sie Spenden sammeln. „Wir haben einfach gemerkt, dass das effizienter ist“, | |
sagt Pavlo Melnyk. Vitsche konzentriert sich auf Proteste sowie Kultur- und | |
Bildungsveranstaltungen zur Ukraine. Die Demos sind aber deutlich kleiner | |
geworden, sagt Vlada Vorobiova. „Viele Ukrainer, die hierher geflohen sind, | |
sind damit beschäftigt, sich zu integrieren. Sie haben oft nicht die Zeit | |
für Demos.“ | |
## Saisongerechter Protest | |
Statt nur bei einzelnen Anlässen zu protestieren, haben sie bei Vitsche | |
aber nun auch ihre Strategie geändert. „Wir versuchen längere Projekte zu | |
machen und einzelne Themen in den Vordergrund zu stellen“, sagt Pavlo | |
Melnyk. | |
Wie das aussieht, kann man ein paar Tage später auf dem Hackeschen Markt in | |
Berlin-Mitte sehen. Es ist der letzte Sonntag im November, die Temperaturen | |
sind unter null gefallen. Auf dem Platz versammelt sich eine kleine Gruppe. | |
Neben ukrainischen Fahnen fallen zwei Demonstrantinnen auf, die in | |
schwarz-weiß-lila Kuhkostümen stecken. Ihre Hörner und Vorderhufe sind | |
blutverschmiert. Auf großen Plakaten steht: #BoycottMilka. Dazu das Bild | |
eines Stücks Schokolade in Form einer Artilleriegranate. | |
Milka gehört zum US-Lebensmittelkonzern Mondelez – wie auch Toblerone, Oreo | |
oder Marabou. Der Konzern produziert weiterhin in Russland. Damit verstößt | |
er nicht gegen Sanktionen. Aber mit seinen Steuern trägt er zum russischen | |
Haushalt bei, mit dem der Angriffskrieg finanziert wird. Mit Kritik | |
konfrontiert, [4][antwortet Mondelez in einem Statement], man stelle | |
„Grundnahrungsmittel des täglichen Bedarfs“ her und habe auch eine | |
Verantwortung für etwa 3.000 russische Angestellte. | |
[5][Nach Berechnungen der Kyiv School of Economics] hat Mondelez 2022 in | |
Russland Gewinnsteuern in Höhe von 62 Millionen Dollar gezahlt. In Norwegen | |
und Schweden haben deshalb mehrere große Unternehmen [6][Produkte von | |
Mondelez aus ihrem Angebot verbannt]. | |
Die Kampagne von Vitsche ist auf die Vorweihnachtszeit abgestimmt. Deshalb | |
haben sie Milka aus den vielen Firmen, die weiter in Russland Geld | |
verdienen, herausgepickt. Die Kühe verteilen Infoblätter an Passanten, die | |
Gruppe stellt sich in einem Halbkreis auf. Aus Megafonen schallt: „Keine | |
Geschäfte mit Russland“ und „Boykott Milka“. Dazwischen gibt es längere | |
Redebeiträge in Ukrainisch, Englisch, Deutsch. | |
Nur wenige Passanten bleiben stehen, beginnen, die Zettel zu lesen. Die | |
meisten haben es eilig, der Wind ist eisig. Nach anderthalb Stunden ist die | |
Kundgebung vorbei, die zwei Frauen schlüpfen aus ihren Kostümen, die | |
Vitsche-Leute packen zusammen. Trotz der Kälte ist die Stimmung gelöst. Sie | |
sprechen über die nächsten Aktionen. | |
2 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.economist.com/leaders/2023/09/21/ukraine-faces-a-long-war-a-cha… | |
[2] https://vitsche.org/ | |
[3] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw46-de-ukraine-976574 | |
[4] https://www.mondelezinternational.com/News/Statement-on-our-Operations-in-R… | |
[5] https://docs.google.com/spreadsheets/d/1EFlhBQYyvRdSn4U6CY2yomeHEhTqbMKS/ed… | |
[6] https://www.stern.de/wirtschaft/russland-geschaefte-von-mondelez-fuehrt-zu-… | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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