| # taz.de -- Katja Petrowskaja über den Ukrainekrieg: „Ich bin keine geborene… | |
| > Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Katja Petrowskaja über die Kraft | |
| > der Bilder und warum sie das Russische nicht Putin überlassen will. | |
| Bild: Katja Petrowskaja, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturwissens… | |
| taz am wochenende: Frau Petrowskaja, „Das Foto schaute mich an“ heißt Ihr | |
| neues Buch. Für Sie ist ein Foto offenbar mehr als etwas Passives, das man | |
| betrachten kann. | |
| [1][Katja Petrowskaja]: Betrachtung ist eine Tat, eine Haltung, ein Dialog. | |
| Die Fotos werfen Fragen auf. Viele Fotos sind Zeugnisse oder legen Zeugnis | |
| ab. Als solche geben sie immer Anlass für eine Frage, eine Erinnerung oder | |
| eine Geschichte. | |
| Momentan zeugen viele Bilder von unerträglichen Grausamkeiten – in Irpin, | |
| Butscha, Charkiw oder Mariupol. Wie nah gehen Ihnen diese Bilder? | |
| Ich kann sie nicht vergessen. Sie stecken wie Bombensplitter in mir. Krieg | |
| ruiniert unsere Welt, auch unsere innere. Es fällt mir schwer, diese Bilder | |
| anzuschauen, aber es ist unmöglich, es nicht zu tun, selbst wenn sie mit | |
| einer Warnung vor verstörenden Inhalten versehen sind. Diese Fotos machen | |
| Zeugen aus uns, gnadenlos. Mit dem Anschauen nehmen wir dieses unfassbare | |
| Geschehen in unsere Realität auf. Ich darf und kann mich nicht abwenden. | |
| Gibt es ein Bild, das für Sie diesen Krieg mit all seinen schrecklichen | |
| Folgen ikonisch abbildet? | |
| Das, was gerade passiert, ist eine vielfältige Tragödie, sie ist | |
| unreduzierbar. Ich würde deshalb kein Bild zur Ikone erklären. Jedes | |
| einzelne Bild spricht für sich und bildet einen Teil der Kriegschronik und | |
| des Widerstands ab. Sei es eine Katze in einer Ruine oder ein Professor, | |
| der seine Vorlesungen im Schützengraben hält. Die Gesichter der Kämpfer in | |
| Asowstal, die Stadt Mariupol, die wie Stalingrad 1944 aussieht, oder der | |
| Friedhof in Irpin, der das ganze Bild bis zum Horizont einnimmt. Die | |
| Menschen auf den Bahnhöfen, Kinder in Schutzkellern oder U-Bahnen. Und ja, | |
| die Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen in den Vororten meiner | |
| Heimatstadt Kiew. | |
| Wie sind Ihre Texte entstanden? | |
| Es waren ganz unterschiedliche Begegnungen mit den Bildern, manchmal | |
| flüchtig und leicht. Die Bilder sind aus Zeitungen, Familienarchiven, | |
| Ausstellungen und von Flohmärkten, aus den Händen meiner Freunde oder aus | |
| dem Internet. Alle haben sich mir in irgendeiner Form aufgedrängt, Zufälle | |
| haben mich oft zu ihnen geführt. Und Zufall schmeckt nach Freiheit. | |
| Ihr Buch beginnt mit dem Bild eines rauchenden Bergmanns aus der | |
| Ostukraine. | |
| Es war tatsächlich das erste Bild, über das ich geschrieben habe. Mein Buch | |
| handelt nicht vom Krieg, aber es ist von ihm gezeugt. [2][Als ich vor acht | |
| Jahren meinen Roman „Vielleicht Esther“ beendete], der mit Kiew stark | |
| verbunden ist, waren bereits die Maidan-Proteste im Gange. Im Februar 2014 | |
| wurden in der Straße, in der ich geboren bin und in der der Roman endet, | |
| über einhundert Menschen getötet. Die Geschichte hatte mich eingeholt. | |
| Dann folgte die Annexion der Krim durch Russland, der Krieg in der | |
| Ostukraine und ein abgeschossenes Passagierflugzeug. Der Westen tat nichts | |
| und ich hatte das Gefühl, wir werden ganz alleingelassen. Ich war damals | |
| völlig sprachlos, und dann habe ich dieses Bild gesehen. Es wurde von | |
| Yevgenia Belorusets gemacht, eine meiner engsten Freundinnen. Es hat mich | |
| gepackt und nicht mehr losgelassen. | |
| Warum? | |
| Das Bild war ein Rätsel. Ich habe es nicht verstanden. Es zeigt einen | |
| rauchenden Bergarbeiter in der Grenzregion, der nicht weiß, wem er | |
| eigentlich begegnet, wenn er aus der Grube nach oben kommt. Nun begegnet er | |
| einer Fotografin. Er schaut auf sie, auf uns. Seine Augen sind mit Rauch | |
| bedeckt. Ist es Vorwurf? Verzweiflung? Wut? | |
| Ich konnte das Bild nicht deuten. Wie auch diesen Krieg und unsere Ohnmacht | |
| nicht, den Tod der zahlreichen jungen Soldaten. Ich wusste nicht, wie ich | |
| mit diesem Krieg und der verlorenen Krim meiner Kindheit umgehen sollte, | |
| mit diesen Schmerzen. So sind diese Foto-Kolumnen entstanden, aus Unwissen | |
| und Unruhe. | |
| Inwiefern unterscheidet sich der Blick auf private Fotografien vom | |
| Betrachten anderer Bilder? | |
| Durch Schreiben macht man viele Fotos zu eigenen. Man adoptiert Bilder von | |
| anderen, konstruiert eigene Geschichten. Im Band gibt es Foto einer fremden | |
| Babuschka und ein Foto von den Menschen an der Berliner Mauer. Ich | |
| adoptiere die Babuschka und „erlebe“ die Geschichte an die Mauer. Das erste | |
| Foto im Band aus meinem Familienarchiv ist der zerstörte Maidan in Kiew aus | |
| dem Jahr 1943. Dieser Platz gehört zur Topografie meiner Kindheit. | |
| Ich habe dann das Foto nach den Protesten im Winter 2013/2014 gesehen. Es | |
| war wie eine doppelte Belichtung der Geschichte. Das Zusammenspiel aus | |
| allem wirkte wie eine Art Rückkopplung. Ein anderes Bild war das Foto | |
| meiner Mutter als junge Frau im Bikini, die an einer Rauchwolke entlang | |
| läuft, ein Antonioni-Look. Ich hatte das Bild vorher noch nie gesehen. Ich | |
| war noch nicht geboren. Irgendwie war sie plötzlich ganz da auf dem Bild, | |
| so wie sie ist. | |
| Ist das Bild am Ende stärker als die Sprache? | |
| Nein, aber aus der Psychologie ist bekannt, dass wir mit Bildern viel | |
| einfacher zu beeinflussen sind als durch Worte. Bilder sind schneller und | |
| direkter. Wir leben in einer hektischen Gesellschaft und in ideologischen | |
| Zeiten. Auch deswegen nehmen sie viel mehr Platz ein. | |
| Wie verändert sich durch diesen Krieg Ihr Bezug zur russischen Sprache? | |
| Ich bin, wie viele Ukrainer, russischsprachig. Ich spreche zwar Ukrainisch, | |
| aber nicht so gut, wie ich möchte. Die Geschichte der ukrainischen Sprache | |
| ist mehr als tragisch. Sie wurde unterdrückt und erniedrigt, eine ganze | |
| Generation von Schriftstellern und Künstlern ist in den 30er Jahren getötet | |
| worden. Ukrainisch bekommt nun zu Recht mehr Raum. Ich lese viel mehr auf | |
| Ukrainisch als sonst, nicht nur Nachrichten. Ich habe dadurch das Gefühl, | |
| mehr bei meinen Freunden und Landsleuten in der Ukraine zu sein. | |
| Aber wenn wir Russisch jetzt nur als Sprache des Imperiums betrachten, | |
| begehen wir einen bedauerlichen Fehler. Es ist auch die Sprache der | |
| Angegriffenen, die Sprache der Emigranten, die Sprache von Wassili Grossman | |
| und Warlam Schalamow. Diese Unterscheidung zu bewahren, ist mir wichtig. | |
| [3][Denn ich bin nicht bereit, meine Muttersprache an Putin abzugeben]. | |
| Sie schreiben auch über den russischen Künstler Petr Pawlenski und seine | |
| Solidaritätsaktion für einen ukrainischen Regisseur. Sind Sie enttäuscht, | |
| dass heute solche Zeichen aus Russland fehlen? | |
| In Russland fehlt unsere Erfahrung vom Maidan, als Menschen durch | |
| gemeinsame Anstrengungen die Macht errungen haben. Seit Jahren erleben | |
| Russen, dass Putin immer gewinnt. Ich weiß von Menschen, denen die | |
| Sicherheitskräfte bei den wenigen Protesten gegen den Krieg die Beine | |
| gebrochen haben oder die wegen ein paar Antikriegszetteln zu zehn Jahren | |
| Haft verurteilt wurden. Wem soll ich es also verübeln, nicht auf die Straße | |
| zu gehen? Hätte ich das selbst gewagt? Ich weiß es nicht. | |
| Wie stehen Sie Aufforderungen, russische Kultur zu boykottieren, gegenüber? | |
| Diese Forderungen sind eine Folge des Krieges und der Jahrzehnte, in denen | |
| die Ukraine kaum als eigenständiges Subjekt wahrgenommen wurde. Deshalb | |
| finde ich es richtig, der Ukraine und der ukrainischen Kultur mehr Raum zu | |
| geben. Ich lebe aber seit 20 Jahren im Ausland, wie viele andere Emigranten | |
| aus der Sowjetunion und Menschen, die Russland bewusst verlassen haben; | |
| Andersdenkende, Menschenrechtler und Künstler. Gemeinsam haben wir gegen | |
| den Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim protestiert, deswegen | |
| gehe ich mit diesen Forderungen anders um. Warum sollte ich jetzt einen | |
| Kollegen boykottieren, der seit 20 Jahren schreibt, was von Putin zu | |
| erwarten war, nur weil er aus Russland kommt? | |
| Was können Kunst, Kultur und Literatur heute denn beitragen außer offenen | |
| Briefen? | |
| Alles! Kulturschaffende sind erst einmal ganz normale Menschen. Sie können | |
| helfen wie alle anderen auch. Sie können Flüchtlinge aufnehmen, | |
| Solidaritätsveranstaltungen machen oder Hilfsmittel organisieren. Sie | |
| können aber auch ihre Stimme nutzen und aufklären. Man muss allerdings die | |
| richtigen Worte finden. Ich habe gewagt, nach Butscha an den | |
| Bundespräsidenten einen Brief zu schreiben, um meiner Ohnmacht Ausdruck zu | |
| verleihen. | |
| Fühlen Sie sich in eine Rolle gedrängt, die Sie sich nie ausgesucht haben? | |
| Es ist ein sehr ambivalenter Zustand. Ich bin keine geborene Kämpferin. | |
| Aber ich konnte nicht anders, ich musste mich zu Wort melden. Aber es ist | |
| wirklich nicht einfach, im Krieg den eigenen Platz zu finden. Das | |
| Schreiben fällt mir schwer, ich finde oft die Worte nicht. Deshalb bin ich | |
| auch im Hintergrund aktiv. Das ist das Einzige, was ich gegen diese | |
| Ohnmacht tun kann: helfen, da, wo ich kann. | |
| Haben Sie eine Idee, wie das künftige Verhältnis zwischen der Ukraine und | |
| Russland aussehen kann? | |
| Es scheint mir heute zu luxuriös, darüber nachzudenken. Jetzt ist wichtig, | |
| Putins Regime zu bändigen und diesen schrecklichen Krieg zu beenden. Erst | |
| dann können wir über die Zukunft nachdenken. Was jetzt passiert, wird | |
| Generationen prägen. | |
| 21 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Hummitzsch | |
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