# taz.de -- Russische Sprache: Beschädigte Zukunft | |
> Ein Opfer des Angriffs auf die Ukraine ist die russische Sprache, die | |
> Präsident Putin vorgibt zu verteidigen. Wird sie sich je rehabilitieren | |
> können? | |
Bild: Zerstört durch russischen Luftangriff: eine Schule in Tschernihiw, Ukrai… | |
Vor 20 Jahren sagte der 2018 verstorbene Schriftsteller Andrei Bitow, die | |
russische Sprache sei das Einzige, das allen tragischen Erfahrungen des 20. | |
Jahrhunderts widerstanden habe. Sie sei noch immer schön, reich und könne | |
alles ausdrücken. Durch die Sprache rette sich das Volk. Ob er das heute | |
noch so sehen würde, wage ich zu bezweifeln. Der Angriffskrieg und die | |
damit einhergehende [1][Schmutzkampagne gegen die Ukraine in den russischen | |
Medien], die das kontaminierte Vokabular des Zweiten Weltkrieges krude | |
recycelt, Fakten verdreht und perfide Wortkonstruktionen erfindet, | |
werden die russische Sprache und damit auch jene, die sie und ihre Kultur | |
vermitteln, nicht unversehrt lassen. | |
Ich musste in diesen Tagen an einen Vortrag des verstorbenen | |
Nobelpreisträgers Imre Kertész aus dem Jahr 2002 denken. Darin verwies er | |
auf den Verlust des Deutschen als Lingua franca in Mittelosteuropa als | |
Folge des deutschen Angriffskriegs und des Holocausts. Wird das Russische | |
ein ähnliches Schicksal erleben? Wird Sprache und Kultur eine Mitschuld an | |
den Gräueln machttrunkener, menschenverachtender Politiker gegeben werden? | |
Wird man sich von der russischen Sprache abwenden, so wie | |
Holocaustüberlebende sich oft weigerten, Deutsch zu sprechen oder Deutschen | |
die Hand zu geben? Wird es nach [2][Mariupol] und [3][Butscha] möglich | |
sein, Gedichte auf Russisch zu schreiben? | |
2013 wurde auf Initiative Putins der Rat für russische Sprache neu ins | |
Leben gerufen, dessen Ziel es sein sollte, das Russische gegen „russophobe | |
Nationalisten“ vornehmlich in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu | |
verteidigen. Im vergangenen Oktober erinnerte Putin daran, dass 2023 zum | |
Jahr der russischen Sprache innerhalb der GUS-Staaten, darunter Belarus, | |
Moldawien, Kirgistan, Armenien und Aserbaidschan, werden solle. Russisch | |
sollte als Sprache der „interethnischen Kommunikation“ gefeiert werden, | |
Events darauf abzielen, das Image und den Status der Sprache zu bewahren | |
und zu verbessern. Doch längst haben Länder der GUS das kyrillische | |
Alphabet gegen das lateinische getauscht, darunter Aserbaidschan und | |
Kasachstan. | |
Selbst in Belarus, wo unter dem russophilen Lukaschenko die Landessprache | |
als bedroht galt und vehement unterdrückt wurde, hat man sich nach der | |
Eroberung der Krim wieder stärker dem Belarussischen zugewandt. Aus dem | |
Statusgewinn des Russischen wird ebenso wenig etwas werden wie aus dem | |
vermeintlich sprachlich geeinten „zivilisatorischen Raum“ der GUS-Staaten. | |
Auf den Schlachtfeldern der Ukraine wird am Ende auch die russische Sprache | |
ein Opfer sein. | |
## Grenzen der Völkerfreundschaft | |
Dieser Tage schrieb der russischsprachige, in der Ukraine lebende | |
Schriftsteller Andrej Kurkow im New Yorker über die Folgen des Kriegs für | |
seine Muttersprache. Werden ukrainische Kinder, gefragt, welche | |
Fremdsprache sie in der Schule erlernen möchten, antworten: Nicht Russisch, | |
denn die Russen haben meinen Vater ermordet, die Russen haben meine kleine | |
Schwester umgebracht? So wie der 1961 geborene Autor einst das Deutsche als | |
Fremdsprache verweigerte, weil die Nazis seinen Großvater ermordet hatten. | |
Vermutlich, so Kurkow, wird es genauso kommen. Putin zerstöre nicht nur die | |
Ukraine, sondern auch Russland und die russische Sprache. | |
Russisch ist nicht meine Muttersprache, ich habe es in der DDR und später | |
während eines Jahrs in Woronesch, 600 Kilometer südöstlich von Moskau, | |
gelernt. Auch wenn ich es nicht perfekt beherrsche – ich höre, lese und | |
spreche es gern. Es ist eine weiche, melodische Sprache mit vielen Nuancen, | |
zärtlichen Diminutionen und ziemlich ausgefuchsten Flüchen. Auf einer Reise | |
mit einer Kommilitonin von Leipzig nach Woronesch machten wir spontan halt | |
im damals noch sowjetischen Kiew, in der Tasche die, wie sich | |
herausstellte, nicht aktuelle Adresse einer Brieffreundin. Wir suchten | |
stundenlang in einem Viertel mit Chruschtschowbauten, bis eine Frau | |
freundlich fragte, was wir denn von den Leuten, die wir suchten, wollten. | |
Übernachten, antworteten wir kleinlaut, worauf man uns einlud. Es war | |
Januar, wir waren durchgefroren und müde. Anderthalb kleine Zimmer, drei | |
Generationen von Frauen, Bratkartoffeln und Tee. Die Tochter ging auf eine | |
der gerade einmal vier Schulen in Kiew, an denen damals Ukrainisch als | |
Muttersprache unterrichtet wurde. Das machte mich stutzig. | |
Nach dem Studium ging ich nochmals für ein Jahr in die Sowjetunion, diesmal | |
nach Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Dort stieß ich auf den kaum | |
kaschierten russischen Nationalismus, der sich damals vor allem in einem | |
offenen Antisemitismus zeigte. Als besonders beschämend erinnere ich einen | |
Vortrag zum Nahostkonflikt speziell für Studenten aus der DDR, der einer | |
einzigen antisemitischen Tirade glich, bemerkenswerterweise ohne | |
Widerspruch der versammelten DDR-Nachwuchselite. Mir war auch aufgefallen, | |
dass die Studenten aus den Kaukasusrepubliken mehr oder weniger unter sich | |
blieben, wie auch jene aus Mittelasien. Die Völkerfreundschaft hatte schon | |
damals Grenzen, doch die Sprache verband mehr, als dass sie teilte. Noch | |
jedenfalls. | |
## Sprache als Brücke | |
Über das Russische lernte ich die Literaturen der anderen Sowjetrepubliken | |
kennen, wie die meisten Lektoren in DDR-Verlagen las ich die Romane | |
zunächst in den russischen Ausgaben, um dann zu entscheiden, ob sie aus den | |
Originalsprachen übersetzt werden sollten (wenn sie denn publiziert werden | |
konnten). Immerhin funktionierte die koloniale Lingua franca als | |
kultureller Multiplikator, wenn auch mit hegemonialer und zensurierender | |
Attitüde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging diese Funktion | |
verloren, es dauerte Jahre, bis Lektoren, Übersetzer und Agenten für die | |
post- und präsowjetischen Literaturen gefunden wurden. | |
Erst langsam entstand im Westen ein stets überschaubares Interesse an | |
diesen neu und wieder entstandenen Ländern und ihrer Kultur. Zu Beginn | |
interpretierte ich den Bedeutungsverlust des Russischen als Rückfall in | |
einen Provinzialismus. Zudem ist vieles von dem, was in den letzten Jahren | |
beispielsweise über Georgien, die Ukraine oder Aserbaidschan zu lesen war, | |
im Westen entstanden, von hier lebenden Autor*innen, wie Nino | |
Haratischwili, Olga Grjasnowa, Marina Lewycka, Katja Petrowskaja, Vladimir | |
Vertlib und anderen. Übersetzungen aus den Landessprachen hatten es | |
schwerer. Deutsch oder Englisch fungierten als Brücke, was auch den | |
Migrationsbewegungen aus der ehemaligen Sowjetunion infolge der Vertreibung | |
und des Kriegs geschuldet ist. | |
Welche Rolle wird das Russische nach dem Krieg in der Welt, in der Kultur | |
noch spielen? Wird es, wie der in der Schweiz lebende Schriftsteller | |
Michail Schischkin hofft, eine Stunde null für die russische Gesellschaft | |
geben? Wird man außerhalb Russlands diese schöne, reiche Sprache auch | |
weiterhin erlernen wollen? Werden wir die Paläste in Petersburg betrachten | |
können, ohne dabei an die Ruinen von Mariupol zu denken? | |
## Kein Eigentum Russlands | |
Noch, so Andrej Kurkow, werden die Romane von Dostojewski und Tolstoi in | |
der Ukraine nicht verbrannt. Bis zum Beginn des Kriegs dominierte Russisch | |
in den sozialen Netzwerken, im Fernsehen, selbst auf Speisekarten in der | |
Ukraine, nur im Radio und im Westen des Landes überwog die offizielle | |
Landessprache, obwohl es seit 2019 ein Gesetz gibt, das Ukrainisch als | |
einzige offizielle Sprache anerkennt. Doch Russisch hat seine Unschuld | |
verloren. Nicht nur in der Ukraine bezeichnen sich immer weniger Bürger als | |
russische Muttersprachler, auch in Estland und Lettland, wo eine große | |
russische Minderheit lebt, schwindet das Zugehörigkeitsgefühl zum Land und | |
der Sprache der Herkunft, in Litauen soll Russisch nur noch zweite | |
Fremdsprache in den Schulen werden. Michail Lotman, Sohn des weltbekannten | |
Linguisten und selbst Professor im estnischen Tartu, schrieb dieser Tage in | |
einem Memorandum, man wolle stolz sein auf Russland und seine Kultur, doch | |
verspüre man andere Gefühle: Schmerz, Wut und Scham. | |
Das Russische sei kein Eigentum Russlands, so wie das Englische nicht den | |
Engländern gehöre und weltweit, auch in den einstigen Kolonien, gesprochen | |
werde, meinte die ehemalige Pressesprecherin Wolodimir Selenskis. Putins | |
Krieg beschädigt die Zukunft der von ihm so vehement verteidigten | |
russischen Sprache, Kultur und Minderheit – nicht nur in der Ukraine, | |
sondern weltweit. Darüber, dass vor diesem Hintergrund das Deutsche im | |
Osten Europas vielleicht wieder so etwas wie eine Lingua franca wird, kann | |
ich mich in diesen Tagen nicht freuen. | |
21 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Berking | |
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