| # taz.de -- Militäranalysten in Kriegszeiten: Die neuen Virologen | |
| > Seit Beginn des Ukrainekrieges sind Militärexperten gefragte | |
| > Gesprächspartner. Doch beenden könne einen Krieg nur die Politik, sagt | |
| > Franz-Stefan Gady. | |
| Bild: Derzeit sehr begehrter Gesprächspartner für Medien: Militärexperte Fra… | |
| Berlin taz | Jede Krise hat ihre Experten. So auch der Krieg. Mit Russlands | |
| Überfall auf die Ukraine drängt er mit Bildern von Panzern, Raketen, | |
| Bombern und millionenfachem Leid in die täglichen Nachrichten. Eine | |
| Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahren nur wenig mit dem | |
| Militärischen beschäftigt hat, studiert nun Frontverläufe, lernt | |
| verschiedene Panzerabwehrraketen zu unterscheiden, diskutiert | |
| Aufmarschstrategien und Nachschubprobleme. | |
| Um zu verstehen, was bei den Kämpfen in der Ukraine eigentlich passiert, | |
| ist gerade das Wissen von Leuten sehr gefragt, die – wie Virologen vor | |
| Beginn der Pandemie – bisher nur einer Fachöffentlichkeit bekannt waren. | |
| Leute wie Franz-Stefan Gady. | |
| Er ist Militäranalyst und Politikberater beim [1][International Institute | |
| for Strategic Studies] (IISS). Der Thinktank hat sich darauf spezialisiert, | |
| möglichst viele Daten zu den Armeen dieser Welt zusammenzutragen. Er | |
| veröffentlicht etwa Analysen zur russischen Militärreform, zum Drohnenkrieg | |
| und dem Einsatz künstlicher Intelligenz auf dem Schlachtfeld. | |
| Gady wird mit seinen Einschätzungen zum Ukrainekrieg gerade in der Zeit und | |
| der Süddeutschen zitiert, er gibt dem Deutschlandfunk und tagesschau.de | |
| Interviews, hält Vorträge vor Bundeswehroffizieren und berät | |
| Bundestagsabgeordnete. Jeden Morgen veröffentlicht er [2][auf Twitter] | |
| einen Kurzüberblick über den Verlauf des Krieges. | |
| ## Infos aus öffentlichen Quellen | |
| Mit einem weichen österreichischen Akzent empfängt er einen an einem | |
| Dienstagvormittag in seinem Berliner Büro. Er ist in der Südsteiermark | |
| aufgewachsen. Den größten Teil seines Lebens habe er aber in den USA | |
| verbracht, sagt er. Er trägt einen grauen Anzug mit weißem Einstecktuch, 39 | |
| Jahre ist er alt. | |
| Im Flur hängen große Infografiken, auf denen abgebildet ist, welche Länder | |
| wie viele U-Boote haben, wo die chinesische Armee ihre Divisionen | |
| stationiert oder wie weit die Raketen des Iran fliegen können. „Alle | |
| Informationen werden aus öffentlichen Quellen zusammengetragen“, sagt Gady. | |
| Akademische Literatur, soziale Medien, Presseaussendungen, Militärattachés | |
| und offene Quellen von Regierungsbehörden. Alles werde streng überprüft und | |
| verifiziert. Es sei verblüffend, was sich da so alles finden ließe. | |
| Das Militär habe ihn schon immer interessiert, erzählt er. Mit 16 Jahren | |
| ging er an eine Highschool nach Maine, später studierte er internationale | |
| Beziehungen in Österreich und Japan, dann „Strategische Studien“ mit | |
| Schwerpunkt Militäranalyse an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. | |
| Anschließend arbeitete er in den USA bei einer NGO, die Vorschläge für eine | |
| nationale Sicherheitsreform formulierte, Vorträge im Pentagon inklusive. | |
| Gady ist Reserveoffizier des österreichischen Bundesheeres. Er war als | |
| sogenannter eingebetteter Journalist bei Militäroperationen dabei und als | |
| Militärbeobachter in Afghanistan und im Irak, bei der US-Armee, der | |
| afghanischen Armee, bei rumänischen Truppen und kurdischen Peschmerga. | |
| Seine Rolle sei es gewesen, mit dem Blick von außen eine Einschätzung | |
| abzugeben. „Ähnlich wie ein Unternehmensberater.“ | |
| Er kann eindrücklich von einem Gefecht zwischen Peschmerga und dem IS | |
| erzählen. Er erinnert sich an das Pfeifen der Kugeln. „Wenn man das hört, | |
| sind sie wirklich nah.“ Es ist ihm wichtig zu betonen: Bei aller nüchternen | |
| Analyse von Waffensystemen sei ihm immer bewusst, was Geschosse und | |
| Granaten anrichten können. „Letztendlich geht es darum, eine große Anzahl | |
| von Männern so schnell wie möglich kampfunschädlich zu machen“, sagt er. | |
| „Also zu töten oder zu verletzen.“ Es sei wichtig, dass auch er das nie | |
| vergesse. | |
| Von seinem Schreibtisch kann er auf den Reichstag blicken, keine 200 Meter | |
| entfernt. Das IISS bekommt seine Mittel aus öffentlichen Geldern und von | |
| privaten Unternehmen, auch Rüstungsfirmen. 1958 in London gegründet, hat | |
| die Organisation Niederlassungen in Washington, Singapur und Bahrain. | |
| Vergangenen Herbst wurde mit Geldern der Bundesregierung das Berliner Büro | |
| eröffnet. Mit dem erklärten Ziel, den „strategischen Diskurs“ in | |
| Deutschland voranzubringen. | |
| Man wolle mithelfen, mit einer klugen Verteidigungspolitik den Frieden zu | |
| sichern, sagt Gady. „Dazu braucht es ein gewisses Maß an Aufrüstung, um | |
| potenzielle Gegner abzuschrecken. Der Gedanke der Abschreckung geht in der | |
| deutschen Debatte oft verloren.“ Es ist eine andere Formulierung für die | |
| Maxime: Wenn du Frieden willst, rüste für den Krieg. | |
| Am Morgen hatte er eine Gruppe Bundestagsabgeordnete zu Gast. Er hat ein | |
| Briefing zur militärischen Situation in der Ukraine gegeben. Über manche | |
| Nachfragen wunderte er sich. „Sie gingen in die Richtung: Der Ukraine | |
| schwere Waffen zu liefern, sei sinnlos.“ Mit dem Argument, dies würde das | |
| Leid nur verlängern. | |
| Die Vorstellung, dass Kapitulation etwas per se Gutes sei, gehe in | |
| Deutschland vielleicht auf die Endphase des Zweiten Weltkriegs zurück, sagt | |
| Gady. Damals sei es mutig gewesen, sich zu verweigern und nicht weiter für | |
| ein verbrecherisches System zu kämpfen. Das könne man aber nicht | |
| verallgemeinern. | |
| Als Jugendlicher in der Südsteiermark hat ihn der Jugoslawienkrieg geprägt, | |
| das Kämpfen und Sterben unweit seiner Heimat. Der Einsatz der Nato, um die | |
| Belagerung Sarajevos schließlich zu beenden, beeindruckte ihn. „Ich habe da | |
| zwei Dinge mitgenommen: Militärische Macht kann Leben retten. Sonst wäre | |
| das Sterben immer weitergegangen. Und mich hat beeindruckt, wie die | |
| Amerikaner gesagt haben: Wir machen das jetzt, und ihr Europäer kommt mit | |
| oder nicht.“ | |
| In den vergangenen Jahren gehörte die russische Armee zu seinen | |
| Forschungsschwerpunkten. Ihr Vorgehen beim versuchten Sturm auf Kiew hat | |
| ihn aber überrascht. „Es waren zu viele Angriffsachsen, es war absehbar, | |
| dass es Versorgungsprobleme geben würde.“ Ein Land von der Größe der | |
| Ukraine mit 200.000 Soldaten einnehmen zu wollen, sei von vornherein | |
| unrealistisch gewesen. „Die politische Führung hat den russischen | |
| Streitkräften eine unlösbare Aufgabe aufgegeben, weil sie eine | |
| Generalmobilmachung vermeiden, zugleich aber möglichst große Teile | |
| okkupieren wollte.“ | |
| Verblüfft hat ihn auch die schlechte Koordination der russischen | |
| Streitkräfte, es fehlte am „Kampf der verbundenen Waffen“, wie das | |
| Militärexperten nennen. Dabei sollen sich die verschiedenen | |
| Teilstreitkräfte gegenseitig schützen, Panzer, Infanterie, mobile | |
| Flugabwehr, Fernaufklärung. Stattdessen konnte man auf Drohnenvideos | |
| russische Panzerkolonnen sehen, die ohne jede Absicherung in ein Dorf | |
| fuhren und von ukrainischer Artillerie zusammengeschossen wurden. „Die | |
| russischen Kräfte hatten den Kampf der verbundenen Waffen offenbar nicht | |
| trainiert – wohl auch, weil sie nicht damit gerechnet hatten, in der | |
| Ukraine einen hochintensiven Krieg zu führen.“ | |
| Die russische Armee setze auf eine überlegene Feuerkraft, die einzelnen | |
| Bataillonsgruppen führen viel mehr Geschütze mit als vergleichbare | |
| Nato-Verbände. „Zur russischen Militärdoktrin gehört es zu sagen, wir lös… | |
| unsere taktischen Probleme, indem wir den Gegner zerschießen“, sagt Gady. | |
| Das brauche aber sehr viel Munition, die Probleme habe man gesehen, als es | |
| den Ukrainern gelang, Nachschublinien abzuschneiden. Eigentlich sei | |
| Russlands Armee darauf ausgelegt, auf dem eigenen Gebiet einen | |
| Verteidigungskrieg zu führen. | |
| Gady spricht detailreich und schnell, eine Faszination für | |
| Militärgeschichte klingt durch. Seine Freunde witzelten oft, dass er in | |
| jedem Gespräch auf Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs verweise, | |
| sagt er. | |
| Bei der Analyse von Feldzügen gelte es verschiedene Faktoren | |
| zusammenzuführen: Wissen über die Waffen, geografische Gegebenheiten, | |
| Armeetraditionen und militärhistorisches Wissen, was etwas über den | |
| psychologischen Faktor sagen könne. „Napoleon meinte einmal, die Kampfmoral | |
| stehe zu den physischen Gegebenheiten im Verhältnis drei zu eins. | |
| Motivierte Soldaten können also unmotivierte Gegner immer besiegen, egal, | |
| welche technischen Fähigkeiten diese haben.“ | |
| Die erste Phase des Krieges hat die Ukraine gewonnen. Wie die meisten | |
| Experten sieht Gady nun einen langwierigen Abnützungskrieg im Osten. Dafür | |
| brauche die Ukraine schwere Waffen. „In der ersten Phase ging es darum, den | |
| weiteren Vormarsch zu stoppen – nun muss die Ukraine Gegenangriffe starten, | |
| wenn sie verlorenes Terrain zurückerobern will. Das geht nur mit | |
| gepanzerten Fahrzeugen.“ | |
| Gady betont immer wieder, dass es seine Rolle sei, eine militärische | |
| Einschätzung abzugeben. Alles andere sei Sache der Politik. Ähnlich wie die | |
| Virologen in der Pandemie zieht auch er eine Trennlinie zwischen seiner | |
| Expertise und politischen Entscheidungen. Nicht immer ist die Linie | |
| trennscharf. | |
| Prognosen, wie lange der Krieg dauert, macht Gady nicht. „Wir wissen nicht, | |
| ob wir am Anfang, in der Mitte oder am Ende stehen“, sagt er. „Das entzieht | |
| sich militärischer Expertise. Einen Krieg zu beginnen und zu beenden, sind | |
| politische Entscheidungen.“ | |
| 17 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Pfaff | |
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