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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Sie haben Angst vor ihren Schatten
> Misha Chernomorets bringt Hilfsgüter in die umkämpfte Stadt Charkiw und
> evakuiert Menschen. Eine Suche nach Worten zwischen Leid und Hoffnung.
Bild: Charkiw, 11.4: De Menschen suchen Schutz in der Metro
Der 33-jährige Misha Chernomorets fährt seit Kriegsausbruch für die
Organisation „[1][Rescue Now UA]“ Evakuierungsfahrten aus seiner
Heimatstadt Charkiw und dem Umland der Stadt. Außerdem verteilt er
humanitäre Hilfsgüter. Vor Kriegsausbruch war er Inhaber dreier Restaurants
und leitete ein Projekt für grüne Energie. Misha ist ukrainischer und
israelischer Staatsbürger. Als der Krieg begann, wartete er gerade auf den
Frühling. Er wollte mit dem Rad nach Italien fahren.
## 31.3. – Der 36. Tag des Krieges
Nachdem ich meine Liebsten in die Zentralukraine gebracht habe, bin ich
wieder nach Charkiw zurück, um zu helfen. Ich befinde mich auf der
Schnellstraße Charkiw–Poltava. Sie war mir schon zuvor vertraut, aber seit
der Krieg begann, ist sie zur Straße geworden, die mich heimwärts führt.
Die ersten Evakuierungskonvois meines Rettungsteams nahmen diese Route, wie
auch die ersten Fahrten für die humanitäre Hilfe.
Charkiw ist leer, 90 Prozent der Leute haben die Stadt verlassen. Trotzdem
gibt es entsetzliche Szenen – Sprengkörper, die in Menschenschlangen
fliegen. So entsteht der Horror im Kopf. Klar bringt es dich zum
Nachdenken. Du realisierst, dass das hier nicht schnell enden wird.
Da ist etwas in der Luft. Es fühlt sich wie Stille an, die kurz vor dem
Sturm einsetzt. Die Gedanken gleiten immer wieder zu den Menschen, die in
der Belagerung ausharren. Wir wollen ihnen wirklich helfen. Die Seele
schmerzt unermesslich. Wir sind unglaublich besorgt.
## Zwischen Gerüchten und Geheimhaltung
## 1.4. – Der 37. Tag des Krieges
Raketen, Granaten – die Stimmung schwankt. Neuigkeiten und Gerüchte dringen
zu mir durch. Menschen, die bereits die Stadt verlassen haben, kontaktieren
mich und fragen Dinge wie: „Kann man zurückkehren?“ Ich halte sie davon ab.
Die Neuigkeiten, die uns aus den Dörfern und Vororten erreichen, sind nicht
gut. Das Militär warnt vor Einkesselungen. Also versuchen wir, die
Evakuierungen geheim zu halten und gleichzeitig Informationen über grüne
Korridore zu sammeln.
Beim Mittagessen gab es starke Explosionsgeräusche. Ich habe meine Jungs
beschworen, das nicht zu entspannt zu sehen, aber es führt zu nichts außer
zu Stress und Ärger.
Ich habe bei ein paar Orten vorbeigeschaut, wo Menschen Schutz suchen. Da
gibt es diese 300 Leute in einer U-Bahn-Station. Sie leben dort seit einem
Monat. Es gibt nur zwei Toiletten für sie, mit einer Warteschlange, die nie
abreißt. Ein Wasserhahn ist funktionstüchtig, der andere befindet sich auf
Knöchelhöhe. Wir werden die Anlagen schon wieder reparieren und das alles
entstopfen.
Eine gute Nachricht: Einige Lieferketten für Produkte und Munition sind
wiederhergestellt und die europäischen Lieferungen erreichen uns zügiger.
## 2.4. – Der 38. Tag des Krieges
Der Morgen hat nicht gut begonnen. Wir mussten einen unserer Kameraden
verabschieden, der nun für die territoriale Verteidigung Krementschuks
einberufen wurde. Eine ukrainische Militäreinheit ist außerdem durch eine
Gruppe Pseudofreiwilliger vergiftet worden. Scheinbar irgendein Gift namens
DRG. Und schon sind wir tote Leute. Aber wenn man sich dann von allem
distanziert, wird der Kopf wieder klar.
## Alkoholfreier Champagner und schwarzer Humor
## 3.4. – Der 39. Tag des Krieges
Nachdem wir dem Dorf Chervony Donez des Rajons Balaklija eine große Ladung
humanitäre Hilfe gebracht haben, kehren wir zu unserem Stützpunkt zurück.
Balaklija ist sehr nahe, die russischen Checkpoints sind nur einige
Kilometer entfernt.
In den letzten Tagen seien einige Freiwillige während des
Hilfsgütertransportes verschwunden, haben uns Aktivisten dort gesagt. Ein
Auto, voll beladen mit humanitären Hilfsgütern, kann an den russischen
Checkpoints einfach so beschlagnahmt werden. Im besten Fall wird der Fahrer
dann festgenommen und irgendwo eingesperrt. Oder er verschwindet einfach.
Lyolya und Gleb haben am ersten April geheiratet; daher gab es am heutigen
Abend eine kleine Feier mit Kuchen und alkoholfreiem Champagner –
alkoholfrei, da Alkohol hier strengstens verboten ist. Wir haben beiden
gratuliert, Witze gemacht und gelacht. Es war viel schwarzer Humor dabei.
4.4. – Der 40. Tag des Krieges
Heute habe ich laut ausgesprochen, dass wir bereits den 4. April haben.
Erst jetzt habe ich realisiert, dass der Frühling in vollem Gange ist.
Vor 24 Stunden hat die Ukraine, angesichts der Nachrichten über Butscha,
die sich nun in der ganzen Welt verbreiten, ihren letzten Rest Geduld mit
dem Krieg und den Russen verloren. Nachrichten über all die Zivilisten,
die dort getötet wurden – diese Informationen sind nun öffentlich
zugänglich. Vor ein paar Tagen noch durfte ich nicht darüber sprechen,
obwohl ich es bereits wusste, denn das wäre für unser Team nicht sicher
gewesen. Aber nun gibt es keinen Grund mehr, darüber zu schweigen. Denn
klar ist jetzt: Wir alle sind Feinde.
Vor ein paar Tagen war ich vor unserem Militär an der Front, auf der
Schnellstraße Charkiw–Tschuhujiw. Ich bin an den toten Körpern von
Zivilisten vorbeigefahren. Sie sind durch Kopfschüsse ermordet worden. Die
Ereignisse von Butscha sind nicht die ersten ihrer Art. Es dringt nur nicht
alles zu Journalisten durch. Nicht alles gelangt an die Öffentlichkeit.
## Immer mehr Menschen wollen evakuiert werden
## 5.4. – Der 41. Tag des Krieges
Der gestrige Tag endete mit Warnungen von allen Seiten. Warnungen, dass die
Situation um Charkiw sehr schlimm werden könnte. Dass Charkiw sich im Ring
befinden könnte. Gerüchte – sogar aus Russland, aus Belgorod. Die Leute
sind hier in den letzten zwei Tagen spürbar nervöser geworden. Die
Nachfrage nach Evakuierungen steigt.
## 10.4. – Der 46. Tag des Krieges
Ich befinde mich im Bezirk Balakleyevsky, nicht weit von der Front. Es gab
mehrere Treffen mit den Militärs – wir helfen ihnen mit Medikamenten,
Lebensmitteln, Ersatzteilen für Autos und Munition. Anschließend fahre ich
nach Kramatorsk, um eine organisierte Evakuierung aus der Stadt
einzuleiten. Nach dieser schrecklichen Nachricht über die Raketenexplosion
am Bahnhof hat das Priorität.
## 11.4. – Der 47. Tag des Krieges
Ich bin jetzt für die Evakuierungen in Kramatorsk eingesetzt. Es ist hier
ruhiger als in Charkiw, mit weniger Explosionen. Die Atmosphäre ist anders.
Ich weiß nicht, ob sie besser oder schlechter ist. Hier, in den kleinen
Städten des Donbass, haben die Menschen Angst vor ihren eigenen Schatten –
und vor ihren Nachbarn. Es wird davon geredet, dass man seit 1914 auf die
Ankunft der Russen gewartet habe.
Behörden und Militär sagen, dies seien die letzten 3 bis 5 Tage, in denen
Menschen evakuiert werden können. Dann werde die „große Schlacht“ beginne…
Niemand kann vorhersagen, wie sie ausgeht. Unser Militär ist sehr
entschlossen, aber das Verhältnis zum Feind steht 1:8.
Es gibt mir Kraft, mit den Menschen vor Ort zusammen zu sein. Ich treffe
sie abends, bei einer Tasse Tee oder bei einem Kaffee und halte inne. Diese
Atmosphäre ist schwer zu vermitteln, man muss sie einfach sehen. Wenn eine
Schar von Männern, die bereit sind, ihr Land zu verteidigen, nach Kleidung,
nach Munition, nach Uniformen rufen. Das sind Momente, von denen wir in
Büchern gelesen haben. Sie erinnern mich an Szenen aus den Geschichten von
Jack London – über die Eroberung Amerikas oder die Zeiten des Goldrauschs.
Das gleiche Gefühl hatte ich gestern hier in Kramatorsk, als wir uns am
Abend im Hotel versammelten. Es sind die unterschiedlichsten Menschen da,
die entschlossensten. SBUler – also Leute vom Geheimdienst – aber auch
Journalisten aus der ganzen Welt. Alle sprechen verschiedene Sprachen,
trotzdem verstehen sie sich.
Aus dem Englischen von Frederike Grund
Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in
und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist
auf Spendengelder angewiesen. Spenden können [2][hier] getätigt werden.
15 Apr 2022
## LINKS
[1] http://evacuatekharkiv.org
[2] https://evacuatekharkiv.org/donate/
## AUTOREN
Misha Chernomorets
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