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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Seit zwei Wochen Krieg
> Zuletzt hatte Alma L. an dieser Stelle berichtet, wie sie morgens in
> Lemberg von Sirenen geweckt wurde. Fortsetzung eines Kriegstagebuchs.
Bild: Was tun, um zu helfen: Tarnnetze weben für die ukrainische Verteidigung
Alma L. ist 21 Jahre alt und kommt aus Czernowitz. Sie lebt in Lemberg und
studiert dort Wirtschaft, Politik und Ethik. Ihr jüngerer Bruder, ihre
Eltern und Großmutter leben noch in Czernowitz, nur ihre ältere Schwester
lebt im Ausland. Vor dem Krieg hat Alma viel gemalt und sich mit Kunst
beschäftigt. Seit Beginn des Krieges setzt sie sich rund um die Uhr als
Freiwillige bei verschiedenen Initiativen ein, organisiert Essen, sucht
nach Schutzwesten und vermittelt Unterkünfte. Sie möchte in der Ukraine
bleiben und nicht fliehen.
Montag, 20.39 Uhr, Lemberg
Ich habe eine Stellenausschreibung für Militärdolmetscher für die
territorialen Verteidigungskräfte gesehen. Auch Dolmetscher melden sich
beim Militär und gehen an die Front. Ich habe einen meiner Freunde beim
Militär gefragt, ob er glaubt, dass ich für eine solche Aufgabe geeignet
wäre. Er sagte: ja. Ich habe Angst, aber ich denke, ich werde mich
bewerben.
Ich fühle mich sehr nutzlos, wo ich bin. Ich würde gern etwas
Konsequenteres tun, denn bisher habe ich anderen bei ihrer Arbeit geholfen
– ich habe Lebensmittel für die Freiwilligenküche gesucht, aber nicht für
die Soldaten gekocht. Ich habe bei der Suche nach humanitärer Hilfe für
Vertriebene geholfen, aber ich war nicht auf den Bahnhöfen, um beim
Einsteigen in die Züge zu helfen.
Ein Freund von mir sammelte über Twitter eine Million Griwna, um Fahrzeuge
für das Militär zu kaufen. Stattdessen bin ich Königin der
Tabellenkalkulationen und Brainstorming-Treffen. Ich möchte konkret und vor
Ort helfen und nicht mehr im Management feststecken. Aber ich habe auch
Angst, dass ich die Leute im Stich lasse, wenn ich an die Front gehe. Denn
es arbeiten so viele Freiwillige so hart, dass ich befürchte sie könnten
ausbrennen, wenn es noch desorganisierter wird. Und ich habe Angst es
meinen Eltern zu sagen.
Beim militärischen Eignungstest habe ich 93 von 100 Punkten erreicht. Doch
es gibt professionell ausgebildete Militärdolmetscher, die im Gegensatz zu
mir eine Waffe halten können. Wahrscheinlich gibt es sowieso keine
Uniformen in meiner kleinen Größe. Ich hadere viel, aber ich erinnere mich
auch an die ersten Tage dieses Krieges: die Entschlossenheit, das klare
Denken und die Prioritätensetzung, zu denen ich zum ersten Mal in meinem
Leben fähig war. Vielleicht würde ich an der Front wieder so werden.
Dienstag, 23.21 Uhr
Seit 48 Stunden gab es hier keine Luftangriffswarnungen mehr. Das bedeutet,
dass andere Orte in der Ukraine schwer beschossen werden – wie Mariupol,
Charkiw und Kiew.
Meine Freundin Polina ist mit ihren zwei jüngeren Geschwistern in Kiew. Sie
können nicht weg, weil sich ihre Mutter gerade einer Chemotherapie
unterzieht, die sie nirgendwo anders in der Ukraine bekommen kann. Sie weiß
auch nicht, wo sie sich im Ausland therapieren lassen könnte. Außerdem ist
es sehr schwierig, in einem so geschwächten Zustand zu reisen. Sie müsste
die Fahrt nach Lwiw durchstehen, was in Kriegszeiten viel länger als die
üblichen fünf Stunden mit dem Auto dauert. Und dann mindestens weitere 24
Stunden um ins benachbarte Polen zu gelangen. Ich weiß nicht einmal, wie
meine gesunden Freunde das schaffen.
Heute wurde mir klar, dass ich mein Studium im Grunde wiederholen müsste.
Nach meinem ersten Semester an der Universität begann eine Pandemie, dann
hatte ich ein „normales“ Semester während meines Austauschs in Belgien und
jetzt gibt es den Krieg. Aber ich denke, ich werde das einfach so in meine
späteren Bewerbungen schreiben.
Dieser Krieg ist ein Test für alle meine Fähigkeiten. Ich musste
dolmetschen, filmen, mich um meine geistige Gesundheit kümmern, mich durch
die Nachrichten wühlen, Tarnnetze weben, nach Lebensmitteln suchen,
Logistik organisieren, Einfuhrbestimmungen recherchieren und
Open-Source-Informationen über das russische Militär sammeln. Und ich bin
nicht einmal so produktiv wie andere Menschen, die ich bewundere und
beneide.
Ich bin nicht so mutig und intelligent wie die ukrainischen Soldaten, die
erfolgreich durch die sich ständig ändernde Bedrohung navigieren. Aber ich
muss trotzdem jeden Tag neue Dinge tun. Es gibt keinen Leitfaden oder
Spielplan für einen Krieg. Man hatte die Möglichkeit zu lernen und sich
vorzubereiten, aber jetzt muss man einfach vor Ort handeln. Ich wünschte,
ich wäre besser vorbereitet. Zu meiner Bewerbung als Militärdolmetscherin
habe ich bis jetzt noch keine Rückmeldung von den Streitkräften erhalten.
## Mittwoch, 23.12 Uhr
Ich habe heute meine Freundin Olena getroffen, die gerade erst mit ihren
Freunden aus Kiew angekommen ist. Sie hat mir von ihrer Flucht in den
Westen erzählt. Als sie in den Zug nach Lemberg einsteigen wollte, wurde
sie von jemanden weggeschubst. Also ging sie von Gleis zu Gleis und suchte
nach einem Zug, in den sie einsteigen konnte. Schließlich stieg sie in
einen nach Mykolajiw, einer Stadt in der Südukraine, die derzeit auch von
russischen Truppen umzingelt ist. Nur, um aus Kiew herauszukommen. Doch es
stellte sich heraus, dass der Zug eigentlich nach Lemberg unterwegs war.
Als sie dort angekommen war, ging sie zu einem der Zentren für
Binnenvertriebene. Das Zentrum in dem sie war, ist eigentlich eine Schule.
Yogamatten in den Klassenzimmern dienen als Matratzen und etwa 50 Menschen
halten sich mit all ihren Habseligkeiten und Haustieren in einem Zimmer
auf. Jetzt wohnt sie bei einem Freund von uns. Olenas Mutter und ihr Bruder
sind nun in der Stadt Rubischne in Bezirk von Luhansk. Die Stadt wird jede
Nacht beschossen und sie halten sich im Keller auf.
Es gibt kaum noch Lebensmittel. Ihre Familie hat noch eine kleine Katze bei
sich, für die sie kaum Futter hat. Während ich mich mit Olena unterhielt,
rief ihre Mutter an. Die Stadt wurde wieder bombardiert. Olena sagte, sie
wolle nach Osten gehen und sich der Territorialverteidigung anschließen.
Sie hat aber im Moment noch ihren jüngeren Bruder bei sich. Ich glaube, das
ist das Einzige, was sie davon abhält.
Olena ist Künstlerin und die Nachfrage nach Bildern ist in Kriegszeiten
gleich Null. Doch irgendwie müssen die Menschen weiterarbeiten, um sich
unter diesen Bedingungen über Wasser zu halten. Die Ersparnisse der
Ukrainer sind in der Regel sehr gering – viele Menschen sagen, sie hätten
genug Geld für zwei Monate. Jetzt sind es zwei Wochen.
Ich befürchte, dass es sehr schwer werden wird. Meine Mutter hat früher
Kindern Nachhilfe in Mathematik gegeben. Jetzt gibt es keine Schule mehr,
und es braucht auch keine Nachhilfe. Das Einkommen meiner Mutter hat sich
dadurch halbiert. Es gibt einige Möglichkeiten für Ukrainer, die andere
Sprachen sprechen, aber meine Mutter spricht leider keine Fremdsprachen. Es
gibt viele Menschen wie meine Mutter. Wir müssen diesen Menschen helfen
einen neuen Job zu bekommen.
Donnerstag, 11.36 Uhr
Über Instagram informiere ich meine Freunde im Ausland über die aktuelle
Lage. Heute habe ich gefragt, ob sie Fragen zum Krieg oder zur Ukraine
haben. Aber sie wollten nur wissen, wie es mir geht. Es ist traurig, dass
sich die Leute jetzt weniger für den Krieg interessieren. Als ich jedoch
nach Chinesisch sprechenden Personen fragte, die bei der Bestellung von
Drohnen aus China helfen können, meldeten sich sofort eine Person aus China
und eine aus den USA. Ich weiß diese Art der Unterstützung zu schätzen.
Im Großen und Ganzen bin ich in Sicherheit, aber mir wurde plötzlich klar,
dass auch mein Leben sehr verletzlich ist. Wenn ich einen Tag vor dem Krieg
nach Luhansk gefahren wäre, um für eine Zeitung als Übersetzerin
auszuhelfen, hätte sich alles anders entwickelt. Ich habe all meinen
Freunden geschrieben, dass ich sie lieb habe.
Einer meiner deutschen Freunde fragte mich, ob es stimme, dass alle
ukrainischen Flughäfen zerstört wurden. Das stimmt sicher nicht – zumindest
der Flughafen von Lemberg wurde nie angegriffen, und in den letzten Tagen
habe ich auch nichts dergleichen gelesen. Das bedeutet, dass russische
Fehlinformationen übernommen wurden. Laut den russischen „Medien“ haben sie
mehr Panzer und Flugzeuge zerstört als das ukrainische Militär. Ich werde
jetzt Tarnnetze weben gehen.
Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer
12 Mar 2022
## AUTOREN
Alma L.
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ukraine
Geflüchtete
Lemberg
Serie: Notizen aus dem Krieg
Charkiw
Lwiw
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Mariupol
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Lesestück Recherche und Reportage
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