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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: „Das alles ist schwer zu begreifen“
> Humanitäre Versorgung kommt nicht in die Stadt, Zivilisten nicht
> heraus, die Menschen sind verzweifelt. Ein Bericht aus dem belagerten
> Mariupol.
Bild: Kinderkrankenhaus und Geburtsklinik in Mariupol nach einem Bombentreffer …
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Mariupol taz | Es ist Mittwoch, der 9. März, gegen 16 Uhr nachmittags. Ein
russisches Flugzeug wirft zwei Bomben über dem Kinderkrankenhaus von
Mariupol ab. Die Geburtsstation wird komplett zerstört. Die Anzahl der
Opfer, Frauen und Kinder, steht noch nicht fest. Was aber klar ist:
Dutzende wehrlose Menschen wurden getötet.
Das alles ist schwer zu begreifen, in Worte zu fassen. Es ist schwer, eine
Bewertung abzugeben und dabei am Rahmen eines angemessenen Vokabulars zu
bleiben.
Seit 14 Tagen, die schier endlos scheinen, [2][steht Mariupol unter
andauerndem Raketenbeschuss und einer vollständigen Belagerung]. Ohne
Wasser, Nahrung, Licht und Verbindungen nach außen. Der Mangel an
Medikamenten wird immer größer. Das, was in Mariupol passiert, ist ein
Genozid. An Menschen, die noch vor zwei Wochen loyal gegenüber Russland
waren. Heute sind ihre Herzen nur noch von zwei Gefühlen erfüllt – Angst
und Hass auf Russland.
An diesem Mittwoch hat ein Hilfskonvoi mit dringend benötigten Medikamenten
und Lebensmitteln zum fünften Mal versucht nach Mariupol zu gelangen. Alle
vorherigen Anläufe waren gescheitert. Der Hilfskonvoi war von
Saporischschja aus in Begleitung des Roten Kreuzes aufgebrochen. Er wurde
von einem sehr tapferen Mann angeführt – einem Bewohner Mariupols, sein
Name muss aus Sicherheitsgründen unerwähnt bleiben.
## Kein Fahrer verletzt
„Am Dienstag gerieten unsere Fahrzeuge in der Nähe der Stadt Orechowo unter
Beschuss von Grad-Raketen (eine Art von Raketenartillerie der Russischen
Föderation, Anm. d. Red.),“ erzählt er. „Wie durch ein Wunder wurde keiner
der Fahrer verletzt. Gott sei Dank konnten wir weiter fahren, aber wir
waren gezwungen, an einen sicheren Ort zurückzukehren.“
Und er fährt fort: „Heute, am Mittwoch, waren wir wieder unterwegs. Schon
auf einer anderen Strecke. In der Nähe des Städchens Guljai-Pole gerieten
wir erneut unter Beschuss und stießen auch noch auf eine gesprengte Brücke.
Aber wir geben nicht auf und suchen weiter nach einem sicheren Weg. Unser
Ziel ist, nach Mariupol durchzukommen, um jeden Preis“, sagt er. Um 18 Uhr
abends war die Kolonne an ihrem Bestimmungsort immer noch nicht angekommen
….
Die Mariupoler*innen, die Putins Regime als Geiseln genommen hat, träumen
nur von einem: von der Möglichkeit, die Blockade zu verlassen und an einen
sicheren Ort zu gelangen.
Unterdessen setzt die ukrainische Regierung ihre Gespräche mit der
russischen Seite über die Schaffung eines humanitären Korridors fort, um
die Menschen aus Mariupol evakuieren zu können. Angeblich hat sich die
Russische Föderation zu einer Waffenruhe bereit erklärt und zugesichert,
dass die Zivilist*innen die Möglichkeit erhalten, die blockierte Stadt
zu verlassen.
## Zynische Situation
Aber der Zynismus der Situation besteht darin, [3][dass die russische Armee
bereits drei Mal das Feuer auf die Menschenkolonnen eröffnet hat]. Dieser
Krieg soll die ukrainische Bevölkerung vernichten. Anders ist das alles
nicht zu bewerten.
Aber es gibt auch gute Nachrichten. Am vergangenen Sonntag ist es einem
Konvoi von Privatfahrzeugen gelungen, Mariupol zu verlassen. Das war sehr
gefährlich, doch mehrere hundert Menschen konnten gerettet werden. Unter
ihnen war auch der katholische Priester, Vater Pawel.
„Wir haben die offizielle Abfahrt der Kolonne gar nicht erst abgewartet.
Wir sind sofort losgefahren, nachdem wir gehört hatten, dass es einen
humanitären Korridor geben werde. Wir fuhren nach PortCity (ein großes
Einkaufszentrum, Anm. d. Red.), dort standen schon einige Autos. Und dann
fuhren wir los, einer nach dem anderen“, erzählt Vater Pawel.
„Die Wagen waren voll besetzt. Frauen mit Kindern, Schwangere, Alte … Wir
passierten einen ukrainischen Checkpoint, den einzigen auf dem Weg Richtung
Saporischschja. Und dann etwas weiter wartete schon der Feind. Die Russen
haben es noch nicht geschafft, Fuß zu fassen. Sie stehen einfach an der
Straße, versehen ihren Dienst und halten alle an.
## Andere Uniformen
Ihren ersten Posten passierten wir ohne Probleme. Uns stoppten Burjaten
(eine mongolische Ethnie in Sibirien, Anm. d. Red.). Sie sagten, sie
repräsentierten die Macht der „Donetzker Volksrepublik“ (DNR), verlangten
unsere Papiere und ließen uns durch.
Am zweiten Checkpoint war von DNRlern keine Rede mehr. Mit ausdrucksstarkem
russischen Akzent fragten sie lediglich nach den Papieren und durchsuchten
das Auto. Unsere Probleme begannen an der Abzweigung zum Dorf Fedorowka.
Schon von Weitem sahen wir eine lange Schlange von Autos, die keine
Möglichkeit hatten, weiterzufahren. Wir kamen näher und alles wurde klar.
An diesem Checkpoint standen Leute, sie trugen andere Uniformen. Sie sagten
bloß, dass sie keinen einzigen Mann durchlassen würden. Weder Priester noch
Fahrer – niemanden. Doch die Frauen hatten keinen Führerschein. Schwangere,
Kinder, Frauen, Alte – sie alle baten inständig, sie weiter fahren zu
lassen. Doch ihre Gegenüber hatten kein Herz.
So standen wir dort, fünf Stunden lang. Die Menschen waren erschöpft und
kraftlos. Plötzlich tauchte der Vorsteher des Nachbardorfes auf und bot uns
eine Übernachtung an. Sei es in einem der Häuser, sei es in der Schule ….
## Angst, erschossen zu werden
Doch die Leute fürchteten sich, dorthin zu fahren. Sie dachten, man würde
sie irgendwohin bringen und dann erschießen. Alle hatten Angst. Aber als es
dunkel wurde, gab es keinen anderen Ausweg. Wir konnten doch nicht draußen
auf den Feldern bleiben. Und so bewegten sich alle Autos in Richtung des
Dorfes.
Nachts zeigten uns Einheimische Wege, um russische Checkpoints zu umfahren.
Wir gingen das Risiko ein und fuhren los. Das war unsere Rettung.“
Genau darauf warten in Mariupol immer noch hunderttausende Menschen. Wegen
des ständigen Beschusses konnte die Stadtverwaltung die Zahl derer, die der
russischen Aggression in Mariupol zum Opfer gefallen sind, lange Zeit nicht
einmal ungefähr beziffern. Doch am Dienstag veröffentlichte die Gemeinde
vorläufige Daten: 1.300 Tote. Am Mittwoch hat sich diese Zahl um einige
Dutzend erhöht.
Die Leichen liegen einfach auf den Straßen, niemand schafft es, sie
wegzubringen. Und für die Toten gibt es keinen Ort, um sie zu begraben. Am
1. und 2. März, als es in der Stadt noch Licht gab, hatte sich der Leiter
eines der größten Bestattungsunternehmen in Mariupol, Nikolai Saparow, an
die Bevölkerung gewandt.
## Keine Beerdigungen möglich
Auf den städtischen Friedhöfen seien keine Beerdigungen möglich, erklärte
er, da dauernd geschossen werde. Den Angehörigen empfahl er, die Toten
selbst in die Leichenhalle zu bringen. Dort werde man sie aufbewahren, bis
ruhigere Zeiten anbrächen. Doch dann fiel in der Stadt das Licht aus. Was
jetzt mit diesen Körpern passiert, weiß niemand. Denn auch die Kühlfächer
funktionieren nicht mehr …
Michail K., der jetzt in Mariupol ist, erzählt, dass die Menschen ihre
Toten selbst in Parks oder dem eigenen Garten begraben würden. Am Dienstag
hat die Stadtverwaltung damit angefangen, die Leichen in großen
Massengräbern auf dem Territorium eines geschlossenen Friedhofs im
Stadtzentrum zu beerdigen.
Auf diesem alten Friedhof wird schon seit 50 Jahren niemand mehr bestattet.
Eigentlich wollte die Stadtverwaltung hier eine Totenstadt mit Denkmälern
errichten – so ähnlich wie auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw. Doch
Russlands Präsident Wladimir Putin hat unsere Realität in einen kompletten
Albtraum verwandelt, und jetzt wurde der alte Friedhof wieder eröffnet.
Allein am Dienstag wurden hier in einem Massengrab 100 Tote bestattet. Wer
sie sind und ob sie überhaupt jemand identifiziert hat – auf diese Fragen
werden wir nach dem Krieg eine Antwort suchen.
Die Autorin ist ukrainische Journalistin und lebt in Mariupol.
Aus dem Russischen [4][Barbara Oertel]
10 Mar 2022
## LINKS
[1] /--/!5840730
[2] /Krieg-im-ukrainischen-Mariupol/!5839352
[3] /Krieg-in-der-Ukraine/!5839606
[4] /Barbara-Oertel/!a1/
## AUTOREN
Anna Murlykina
## TAGS
Mariupol
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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