| # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Wie sich Geschichte wiederholt | |
| > Das Rentner-Ehepaar Vartanjan musste 2014 aus Donezk fliehen. Jetzt | |
| > gelang es ihnen, der Hölle in Mariupol zu entkommen. Die Geschichte einer | |
| > Flucht. | |
| Bild: Ein Soldat der pro-russischen Truppen vor der Autokolonne, die die belage… | |
| Dnipro taz | Semjon und Irina Vartanjan sind Heimatvertriebene. 2014 flohen | |
| sie sie aus dem besetzten Gebiet von Donezk und retten so ihr Leben. Jetzt | |
| wiederholt sich die Geschichte. Sie müssen wieder weg laufen, aber die | |
| Umstände, die sie dazu bringen, sind viel, viel schlimmer. | |
| Beide sind nicht mehr jung. Es ist schwer, ein neues Leben anzufangen, wenn | |
| du schon 70 Jahre alt bist. Wenn du das aber zum zweiten Mal tun musst, ist | |
| das jenseits von allem. | |
| 2014 wurde die ukrainische Hafenstadt Mariupol für sie zur zweiten Heimat. | |
| Während der acht Jahre, die sie in Mariupol lebten, gelang es den | |
| Vartanjans, Freundschaften zu schließen, ihr Leben zu organisieren und | |
| einen Teilzeitjob zu finden, um sich ihre Rente aufzubessern. Jetzt haben | |
| die russischen Besatzer all dies zunichte gemacht. | |
| „Ich erinnere mich nicht mehr daran, was mit uns am 24. Februar passiert | |
| ist, am 1. März, am 10. ….. Zuerst dachte ich daran, alles aufzuschreiben, | |
| eine Art Tagebuch zu führen. Doch dann wurde mir klar, dass ich mich an | |
| nichts erinnern und alles so schnell wie möglich vergessen will“, sagt | |
| Semjon. | |
| ## Total chaotisch | |
| Dann fährt er fort: „In Mariupol haben wir an der Kreuzung des | |
| Chmelnizki-Boulevard und der Bachtschivandschi-Straße gelebt. Dort war es | |
| zunächst ruhig. Sie beschossen die Außenbezirke von Mariupol. Doch dann | |
| wurde es jeden Tag schlimmer und der Beschuss stärker. Alles wirkte total | |
| chaotisch. | |
| Zunächst haben sie Mariupol mit Raketenartillerie beschossen, dann begannen | |
| die Luftangriffe. Uns wurde das Wasser abgestellt. Wir hatten es gerade | |
| noch geschafft, die Wanne bis zu Hälfte mit Wasser zu füllen. Dieses Wasser | |
| hat uns gerettet. | |
| Als in der Stadt der Strom ausfiel, schafften wir es noch, die Lebensmittel | |
| aus dem Kühlschrank zu holen. Von dem Fleisch gaben wir etwas den Nachbarn, | |
| damit es nicht schlecht würde. Den Rest kochte Ira in stark gesalzenem | |
| Wasser, dadurch wurde das Fleisch gut konserviert. Daraus bereitete sie | |
| dann eine Suppe zu. Glücklicherweise hatten wir vor dem Beginn des Krieges | |
| einen Sack Kartoffeln gekauft. Diese Kartoffeln bewahrten uns vor Hunger. | |
| Als es dann auch noch kein Gas mehr gab, wurde es ganz schlimm. Wir | |
| begannen unser Essen auf einem Feuer im Hof zu kochen. Das gestaltete sich | |
| für uns schwieriger als für andere. Asthmaanfälle machten es mir unmöglich, | |
| beim Brennholz machen zu helfen. Ich sammelte ein paar Zweige für das | |
| Feuer, aber das war nicht genug. Jedes Mal, wenn ich mich hinunter beugte, | |
| schrie Ira mich an. Sie hatte solche Angst, dass ich einen Asthmaanfall | |
| bekommen würde, den ich vielleicht nicht überleben würde. | |
| ## Explosion im Nachbarhaus | |
| Deshalb liefen wir zunächst einfach von Hauseingang zu Hauseingang und | |
| fragten nach Feuerholz. Schließlich taten wir uns mit unseren Nachbarn | |
| zusammen. | |
| So aßen wir einmal am Tag und warteten auf eine Pause zwischen den | |
| Granaten. Aber diese Pausen wurden immer kürzer. [1][Schließlich schlug | |
| eine Bombe im Nachbarhaus ein.] In unserer Wohnung riss die Explosion die | |
| Fenster heraus, obwohl wir sie immer geöffnet hatten. | |
| Die Angriffe verwandelten sich in ein Flächenbombardement. Zuerst | |
| versuchten Ira und ich, uns zu verstecken, in einen Schutzraum zu gehen | |
| oder uns in den Flur zu setzen. Die Taschen für eine schnelle Evakuierung | |
| waren gepackt, sie standen immer an der Tür. Zuerst waren das große Taschen | |
| mit vielen Sachen, aber dann wurden sie immer kleiner. | |
| Am Ende stopften wir alles in zwei kleine Rucksäcke, um schnell fliehen zu | |
| können, sollte wieder eine Granate einschlagen oder Feuer ausbrechen. Als | |
| die Bombenanschläge so häufig wurden, dass wir die Unterbrechungen zwischen | |
| ihnen nicht mehr bemerkten, gingen wir überhaupt nicht mehr in | |
| Notunterkünfte. Wir legten uns ins Bett, verkrochen uns unter Decken und | |
| starrten auf die Fenster. So lagen wir da und warteten, bis eine Granate | |
| durch unser Fenster fliegen und wir an die Reihe kommen würden. Wir | |
| warteten auf den Tod….“ | |
| ## Elf Stunden Fahrt | |
| Semjon und Irina wurden gerettet. Vor wenigen Tagen gelang es Freunden, sie | |
| aus der eingekesselten Stadt heraus zu holen. Die Fahrt dauerte elf | |
| Stunden. | |
| [2][„Wir haben Mariupol am Morgen verlassen]. Zu diesem Zeitpunkt hatte | |
| sich am Stadtausgang bereits eine lange Schlange von Autos gebildet. Alle | |
| diese Fahrzeuge waren bis oben hin voll bepackt mit Menschen und deren | |
| Habseligkeiten. Sie haben aus der zerstörten Stadt ihr ganzes Leben | |
| mitgenommen“, sagt Semjon. | |
| Bis Berdjansk sei alles problemlos gewesen. Einen verminten | |
| Straßenabschnitt hätten sie umfahren können, danach sei alles wieder ruhig | |
| gewesen. Das änderte sich jedoch hinter Berdjansk. | |
| „Praktisch an jeder Weggabelung standen Russen. Sie hielten die Autos an | |
| und durchsuchten sie ganz genau. Sie überprüften nicht nur die Papiere und | |
| das Gepäck, sondern auch Handys und Notebooks. Wir hatten vorher natürlich | |
| alle Kontakte gelöscht. | |
| ## Viele Checkpoints | |
| Die russischen Soldaten sahen erbärmlich aus. Wie sie angezogen waren … Auf | |
| dem Kopf trugen sie Eisenhelme, wie im Zweiten Weltkrieg. Und das sollte | |
| die beste Armee der Welt sein? | |
| Ich habe sie nicht gezählt, die Checkpoints, die wir passieren mussten, | |
| doch es waren sehr viele. Nachts erreichten wir Wasiljewka, das ist ganz in | |
| der Nähe von Saporischja. Dort stießen wir auf eine gesprengte Brücke. Nur | |
| gut, dass die Einheimischen uns zeigten, wie wir sie umfahren konnten. | |
| Und da, hinter der Brücke, waren auch schon unsere. Sie kamen uns entgegen, | |
| und ich wusste sofort: Das sind unsere. Trotzdem wurden wir angehalten und | |
| überprüft. Offenbar hatten sie Angst vor Saboteuren. Aber dann fuhr eine | |
| Polizeistreife vor und eskortierte uns bis nach Saporischja. | |
| Dort übernachteten wir. Am nächsten Tag fuhren wir weiter – in Richtung | |
| Westen. So ist es. Wir haben unser ganzes Leben hinter uns gelassen. Was | |
| steht uns bevor? Das weiß Gott allein ….“ | |
| Die Autorin lebte in Mariupol. Vor wenigen Tagen schaffte sie es zu | |
| fliehen, und ist jetzt in Dnipro gestrandet. | |
| Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
| 17 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Murlykina | |
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