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# taz.de -- Die Ukraine und wir: Nie wieder Krieg?
> Die Bevölkerung der Ukraine trägt bislang die Last des Krieges ganz
> allein. Für das deutsche Gebot des „Nie wieder“ ist das ein
> Realitätsschock.
Was bedeutet für euch „Nie wieder“?
Diese Frage stellte ein erschöpfter und enttäuschter Präsident Selenski an
die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.
Um das „Nie wieder“ ging es auch in der Debatte bei den Grünen über
militärische Interventionen. Die Partei geriet in eine Zerreißprobe, als
der Zerfall von Jugoslawien zu vier Kriegen führte, deren ersten man
schnell übersehen konnte, weil er so kurz war, die aber mit den Gräueltaten
von Vukovar und dem Beschuss von Dubrovnik unübersehbar wurden und
schließlich [1][in dem großen Morden an den Bosniern] endeten.
Dieses große Morden wurde vollzogen durch Freischärler und Teile der
ehemaligen Jugoslawischen Armee, die das Waffenarsenal eben dieser Armee
für den Krieg gegen die Bosnier gesichert hatten. Die Verteidiger von
Bosnien hatten faktisch keine militärische Ausrüstung zur Verfügung.
## In Turnschuhen im Krieg
Gemäß der Parole „Keine Waffen in Krisengebiete“ verhängte die westliche
Welt ein Waffenembargo über die Region. Das konnte den serbischen Kriegern
herzlich schnuppe sein. Getroffen wurden die Opfer. Sie konnten sich nicht
selbst verteidigen, denn das Waffenembargo hinderte sie am Aufbau einer
einigermaßen verteidigungsfähigen Armee. Ich erinnere mich noch gut an
diese jungen Männer in Turnschuhen und ohne Helm und Westen.
Diesem Treiben sah der Westen lange zu. Bis das Drama von Srebrenica diesem
Zuschauen ein Ende bereitete. 8.000 junge Männer, fast Kinder, die aus
einer von der UNO ausgerufenen Schutzzone, die keine war, ihren Mördern
ausgeliefert wurden.
Das war ein Realitätsschock für all jene, die gemeint hatten, [2][ein
bloßes „Nie wieder“ reiche aus], um sich dem Bösen in der Welt
entgegenzustellen. Es war – und auch das sollte nicht vergessen werden –
der jüdische Überlebende des Warschauer Ghettos Marek Edelman, der lange
vor Srebrenica die Weltgemeinschaft zum Eingreifen aufgefordert hatte. Nun
war es da, das Ende des fundamentalen Neins zu Waffen für Schutz oder
Selbstverteidigung. Der Verteidigungseinsatz der Nato dauerte zehn Tage.
Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn man sich früher
zu diesem Schritt entschieden hätte.
Vier Jahre später war das Kosovo dran. Wieder trat zunächst die OSZE auf
den Plan. Unbewaffnet und als Beobachter. Sie zählten die auffahrenden
Militärkolonnen aus Belgrad. Die ersten Trecks kosovarischer Flüchtlinge
machte sich auf gen Süden nach Mazedonien. Das erste Massengrab wurde
entdeckt. Die UNO hatte keinen Mechanismus zur Verhinderung eines erneuten
Völkermords. Dieser offensichtliche Widerspruch wurde durch einseitiges
Handeln der Nato aufgelöst. Völkerrechtlich nicht eindeutig legitimiert,
gerechtfertigt durch die Überzeugung, dass es geboten ist, einen möglichen
Völkermord zu verhindern.
## Von Jalta zum Maidan
Zeitensprung: Der Zerfall der Sowjetunion entlässt Länder in die
Unabhängigkeit, die Teil des sowjetischen Imperiums oder als eigenständige
Staaten Teil des Warschauer Pakts gewesen waren.
Auf der politischen Landkarte zeigten sich Länder, die hinter dem
trennenden Graben von Jalta verschwunden waren: Polen, Rumänien, Bulgarien
oder Lettland, Litauen, Estland und die Ukraine, die unter dem Dach der
Sowjetunion im Westen kaum als eigenständige Subjekte gesehen wurden.
Das galt insbesondere für die Ukraine. Doch die machte sich bemerkbar und
reihte sich ein in das Freiheitsstreben dieser vormals gegen ihren Willen
an Stalin vergebenen Vasallen. Die Orangene Revolution schickte 2004 den
durch gefälschte Wahlen erkorenen Präsidenten zum Teufel. Doch nach großen
Enttäuschungen im Volk kehrte er fünf Jahre später als Präsident zurück.
Der Maidan 2014: ein großes Volksfest. Zunächst. Russische Rockbands traten
auf, westliche Politiker gaben sich die Klinke in die Hand, jubelten der
Menge von der Bühne aus zu und nahmen ein Bad in der Menge. Ob auch nur
einer von ihnen ahnte, dass mit dieser Ermunterung eine Verantwortung
erwuchs? Eine Verantwortung, an der Seite der Ukrainer zu stehen, falls das
Volksfest zu einem Inferno werden würde?
## Es blieb nicht bei der Krim
Es kam die Annexion der Krim. Im Handstreich. Unblutig, aber brutal.
Zumindest in der Folge, als die Krimtataren – zum zweiten Mal nach der
Deportation durch Stalin – ihrer Rechte und ihrer Kultur beraubt wurden.
Als Verhaftungen stattfanden von denen, die sich dem russischen Regime
nicht beugen wollten.
Aber viele bei uns beschwichtigten: Die Krim sei nun mal das Herzblut der
Russen. Doch weit gefehlt. Es ging nicht um die Krim allein. Putins Truppen
setzten ihren Fuß über die Grenze, vorbereitet durch den
Militärgeheimdienst GRU und assistiert durch eine Fünfte Kolonne von
Banditen und halbseidenen Figuren.
[3][Putin machte sich nicht die Mühe, seine Ziele zu verbergen]. Die
Ukraine sei ein untrennbarer Teil der gemeinsamen Geschichte, Kultur, des
„geistlichen Raums“. Wer sehen wollte, konnte es sehen: Putin würde keine
Ruhe geben. Der abgefallene Teil, „das Brudervolk“, sollte zurück ins
Imperium. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.
Diese Gewalt zog langsam, stetig, mit System und strategischer Logik rund
um die Ukraine herauf.
## Leise Töne aus Berlin
Nicht die Nato kreiste Russland ein. Russland kreiste die Ukraine ein. Im
Norden über Belarus, im Osten entlang der Grenze in Südrussland, im Süden
über das Schwarze Meer.
Diese als Manöver nur schlecht getarnte Kriegsvorbereitung wurde
hingenommen. Die zweite Pipeline durch die Ostsee immer noch als rein
betriebswirtschaftliches Projekt geschönt. Die Außenpolitiker begleiteten
den Aufmarsch „mit Sorge“. Man werde einen Angriff auf die Ukraine nicht
hinnehmen, hieß es. Was das bedeuten sollte, blieb im Ungewissen.
Es waren die USA, die immer klarer die Erwartung formulierten, dass Putin
die Ukraine angreifen lassen würde. Eine westliche Pendeldiplomatie
blieb folgenlos. Nun pilgerten sie alle zu ihm – einzeln versteht sich.
Gewährt wurden Audienzen im Stile eines Zaren. Sie alle kamen mit leeren
Händen aus Moskau zurück.
Fazit: Es war Putin herzlich egal, was ihm als Dialog angeboten wurde. Er
wollte die Ukraine. Die Ukraine ist nicht Teil der Nato, ein Beistand also
ausgeschlossen, und Waffen – so unter anderem deutsche Doktrin – schickt
man nicht ins Krisengebiet.
## Der Terror soll sichtbar sein
Die weitere Entwicklung ist hinlänglich bekannt. Die Einkesselung von
Mariupol, so hält ein erstes Rechtsgutachten von Professor Otto
Luchterhandt fest, fällt unter den Tatbestand des Völkermords. Seit mehr
als zwei Wochen sind 350.000 Menschen ohne Strom, Heizung, Wasser und
Nahrung unter Belagerung. Bomben treffen gezielt zivile Ziele. Eine sichere
Flucht wird ihnen durch russischen Beschuss unmöglich gemacht.
Der Terror überzieht das Land. Und er wird nicht verborgen. Der Terror soll
sichtbar sein. Es geht um die Zermürbung der Bevölkerung. Eine Kinderklinik
in Lwiw, die zur Triage gezwungen ist, weil die medizinischen Möglichkeiten
beschränkt sind – man stelle sich das nur eine Minute vor.
Es steht außer Zweifel: Die ukrainische Armee ist seit dem Maidan von einem
kleinen Häuflein erfahrener Soldaten, die an internationalen Einsätzen
teilgenommen hatte, zu einer regulären Armee herangewachsen. Aber dennoch
schlecht ausgerüstet, der russischen Armee weit unterlegen.
Die Bundesregierung hielt allzu lange fest an dem Grundsatz: Keine Waffen
in Krisengebiete. Nun verfolgen wir den verzweifelten Abwehrkampf
unzureichend ausgerüsteter Männer und Frauen, die mit einem hohen Blutzoll
die russische Armee aufhalten – bisher aufhalten –, und unerwartet
widerspenstig sind. Aber wie lange noch?
## Es ist Zeit für eine Anzahlung
Der jüdische Präsident der Ukraine fleht die Welt um moderne militärische
Ausrüstung an. Denn je schlechter die Kämpfer ausgerüstet sind, desto mehr
werden sterben. Je weniger den Schlächtern in den Arm gefallen werden kann,
desto mehr Zivilisten verlieren ihr Leben. Es klingt pathetisch, wenn
Ukrainer reklamieren, sie kämpften auch für unsere Freiheit. Georgier,
Moldauer, Balten und Polen – sie verstehen gut, was damit gemeint ist.
Ein Untergang der Ukraine würde das russische Militär an Polens Grenze
bringen. Atomare Iskander-Raketen würden uns noch näher rücken. Und was,
wenn Putin mit der Ukraine nicht satt wäre? Was, wenn es um mehr und immer
mehr geht? Georgien und Moldau sowieso, eine Republik Srpska und Serbien
auf den Balkan, dann vielleicht doch das Baltikum. Es sind nur 65
Kilometer, die diese verletzlichen Staaten mit anderen EU- und Nato-Ländern
verbinden.
Ist das wirklich nur der Krieg der Ukrainer? Wo ist das „Nie wieder“?
Die Zeitenwende ist da. Der Kanzler spricht von einer notwendigen Abwehr
und militärischer Vorsorge. Offenbar wird Gefahr und Gefährdung nicht mehr
ausgeschlossen. Für die Ukrainer ist sie heute da. Gelingt ihnen der Sieg,
so sind wir sicher. [4][100 Milliarden sollen in eine neue Bundeswehr
fließen.] Es ist Zeit für eine Anzahlung an die, die uns die Last des
Krieges abnehmen. Gebt ihnen, was sie dafür brauchen. Es geht auch um
unsere Sicherheit.
19 Mar 2022
## LINKS
[1] /Spielfilm-zu-Srebrenica-Massaker-im-Kino/!5786690
[2] /Ukraine-Krieg/!5835138
[3] /Publizist-Fuecks-ueber-Putins-Krieg/!5839957
[4] /Greenpeace-Chef-zum-Krieg-in-der-Ukraine/!5842338
## AUTOREN
Marieluise Beck
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