| # taz.de -- Krieg im ukrainischen Mariupol: „Der Himmel ist rot“ | |
| > Unsere Autorin und ihre kranke Mutter sitzen in der Hafenstadt fest. Seit | |
| > Tagen hagelt es Bomben. Sie denkt an ihre Großmutter und Stalingrad. | |
| Bild: Zerstörung nach tagelangem Beschuss: die Stadt Mariupol am Asowschen Meer | |
| Mariupol taz | Am 24. Februar, früh morgens, ruft mich meine Mutter an. Sie | |
| ist schwer krank und kann kaum noch laufen. Im Krankenhaus am westlichen | |
| Ufer der Hafenstadt Mariupol haben Explosionen sie geweckt. „Töchterchen, | |
| was ist das?“, fragt meine Mutter. „Wir schlafen nicht. Die Sirenen heulen. | |
| Die Wände der Klinik erzittern und der Himmel ist rot. Schrecklich. Was | |
| geht da vor sich?“ | |
| Ich weiß es selbst nicht. Ich öffne die Seite des Nachrichtenportals | |
| Ukrainska pravda und lese: „Wladimir Putin hat mit einer ‚Spezialoperation�… | |
| in der Ukraine begonnen. Das bedeutet Krieg. | |
| Ich habe mir als Schülerin oft vorgestellt, was die Menschen in der UdSSR | |
| gedacht haben mögen, als ihnen am Morgen des 22. Juni 1941 mitgeteilt | |
| wurde, das der Angriff von Adolf Hitler begonnen habe. Jetzt weiß ich es. | |
| Zuerst Erstarrung, dann Angst und schließlich das Bedürfnis, zu Handeln. | |
| Wir hier in Mariupol haben bis zum letzten Moment nicht geglaubt, das ein | |
| Krieg möglich sein würde. Wir dachten, es würde lediglich eine Zuspitzung | |
| an der Kontaktlinie zu den [1][vorübergehend besetzten Gebieten] (die | |
| sogenannten Volksrepubliken Donetzk und Lugansk, Anm. der Red.) geben. | |
| ## Schlimmer als die schlimmsten Alpträume | |
| Seit acht Jahren tobt dieser Krieg gegen die Ukraine – ein Krieg, an den | |
| niemand in Europa glauben wollte. Unsere Streitkräfte haben sich | |
| eingegraben, buchstäblich in den Boden gebissen und sie von dort weg zu | |
| bewegen, war praktisch unmöglich. Deshalb machte das Szenario einer | |
| Verschärfung der Situation an der Kontaktlinie in Mariupol niemandem | |
| wirklich Angst. Wir in Mariupol hatten uns daran gewöhnt, an ein Leben mit | |
| dem Krieg nebenan. Doch die Realität sollte sich als noch schlimmer | |
| erweisen als die schlimmsten Alpträume. | |
| In den ersten zwei bis drei Tagen versuchte Putins Armee die | |
| Verteidigungslinie Mariupols mit aller Kraft zu durchbrechen – erfolglos. | |
| Die Stadt leistet Widerstand. Die russische Armee zerstört unsere | |
| Infrastruktur (Strom- und Wasserleitungen), aber wir setzen sie wieder | |
| instand. Die Truppen rücken vor, aber unsere werfen sie zurück. Die Stadt | |
| lebt, trotz der Zerstörungen. Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren, | |
| Geschäfte werden mit Produkten beliefert. | |
| Aber es scheint, dass die russischen Truppen, die verzweifelt gegen die | |
| Verteidigungslinie anrennen und es nicht schaffen, sie zu durchbrechen, | |
| entschlossen sind: Mariupol unter massiven Artelleriebeschuss zu nehmen und | |
| die Stadt von der Erdoberfläche zu fegen. | |
| Meine Großmutter, Praskowja Wasiljewna Rogoschina, hat den Zweiten | |
| Weltkrieg durchlitten. 1943 als sie 17 Jahre als war, verschleppten sie die | |
| Nazis nach Deutschland. Sie erzählte immer, wie sie, ihre Mutter und | |
| Schwestern, sich vor dem Angriffen auf den Feldern versteckten. Sie wusste | |
| nicht, dass es unmöglich ist, sich vor Marschflugkörpern in Sicherheit zu | |
| bringen. Nirgendwo. Das ist ein anderer Krieg. | |
| ## Mariupol – ein zweites Stalingrad | |
| In den vergangenen vier Tagen hat Putin mit Grad-Raketen, Tornados und | |
| Marschflugkörpern einen Bombenteppich auf die Stadt niedergehen lassen. Die | |
| Situation ist grauenhaft. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die in Mariupol | |
| geblieben sind und unter Beschuss versuchen, die Strom-, Kommunikations- | |
| und Wasserversorgung wieder herzustellen, sind physisch nicht mehr in der | |
| Lage, die Toten zu zählen. Die Anzahl von Verletzen wird nur anhand von | |
| Listen derer erfasst, die es ins Krankenhaus geschafft haben. | |
| Die Ärzte in Mariupol gehen nicht mehr nach Hause. Sie arbeiten rund um die | |
| Uhr und schlafen zwei bis drei Stunden auf der Arbeit. Hebammen entbinden | |
| Frauen in Kellern. Das ist die Realität, in der die Stadt schon sieben | |
| endlos lange Tage überlebt. | |
| Putin kämpft schon nicht mehr gegen die ukrainische Armee. Er hat Kindern, | |
| Frauen und Alten den Krieg erklärt – allen, die einen ukrainischen Pass in | |
| der Tasche haben. | |
| Das ist Aleppo. Eine Stadt unter vollständiger Blockade. Zivilisten haben | |
| nicht einmal mehr die kleinste Chance auf eine Evakuierung. Die russischen | |
| Truppen haben die Schienen am Bahnhof und Diesellokomotiven gesprengt. Laut | |
| des Diktators Putin soll niemand überleben. Niemand soll diese Stadt | |
| verlassen, die sich in ein wahrhaftiges Stalingrad verwandelt hat. | |
| ## Der wahre Genozid | |
| Am Mittwoch haben Priester der Ukrainisch-orthodoxen Kirche einen Konvoi | |
| mit humanitären Hilfsgütern beladen und konnten ihn nicht in die Stadt | |
| bringen. Der Geschäftsmann Rinat Achmetow hat ebenfalls einen Hilfskonvoi | |
| organisiert, doch auch der kommt nicht an. Das Gerede des Aggressors über | |
| „grüne Korridore“ ist nichts als Lüge. Der Beschuss verstummt nicht einmal | |
| auch nur eine Minute. Das ist der Genozid, über den Putins Propagandisten | |
| in den vergangenen acht Jahren geredet haben. | |
| Doch die Stadt gibt nicht auf. Die Menschen in Mariupol organisieren sich | |
| und backen Brot. Sie verteilen Trinkwasser. Sie versuchen, Menschen aus den | |
| Epizentren der Angriffe zu evakuieren. Das Problem jedoch ist, dass die | |
| Fläche, die unter Beschuss ist, mit jedem Tag größer wird. Heute gibt es in | |
| Mariupol kein einziges Fleckchen mehr, das Granaten nicht erreichen. | |
| Warum ist es für Putin so wichtig, Mariupol zu erobern? Es gibt mehrere | |
| Gründe. Er will einen Landkorridor zur Krim schaffen. Und da ist Mariupol | |
| im Weg. In der Stadt konzentriert sich erhebliches industrielles Potenzial. | |
| Dort werden acht Prozent der Deviseneinnahmen des ganzen Landes | |
| erwirtschaftet. Anscheinend braucht die ruinierte Wirtschaft der | |
| „Volksrepublik Donetzk“ ein frisches Objekt zum Plündern. | |
| Und dann ist da noch ein psychologisches Moment. 2014 hat sich Putin an | |
| unserer Stadt die Zähne ausgebissen. Der Zusammenhalt von Bewohnern, Armee | |
| und Wirtschaft konnte damals den Vormarsch des Feindes aufhalten. | |
| Offensichtlich hegt Putin immer noch einen Groll, für den die Einwohner | |
| dieser Stadt mit einer halben Million Einwohner heute bezahlen. | |
| ## Der Himmel muss geschlossen werden | |
| Putin stürzt Mariupol absichtlich in eine humanitäre Katastrophe. Aber er | |
| kann noch gestoppt werden, wenn Flugverbotszonen eingerichtet werden. Dafür | |
| braucht man keine Nato-Truppen. Am Boden können wir selbst die Horden | |
| aufhalten. Unsere Soldaten werden diese Aufgabe bewältigen. Aber der Himmel | |
| …. Er muss „geschlossen“ werden. Wir müssen das Leben unserer Kinder | |
| schützen. Und nicht nur unserer Kinder. Es geht um die Zukunft ganz | |
| Europas. | |
| Der Krieg, den Putin entfacht hat, hat bereits aufgehört ein | |
| russisch-ukrainischer Krieg zu sein. Dieser Krieg bedroht die Sicherheit | |
| Europas. Auf dem Territorium der Ukraine befinden sich [2][vier | |
| Atomkraftwerke]. Sollte eins explodieren, wäre das eine atomare | |
| Katastrophe, die die ganze Welt zerstört. Und das, ohne darauf zu warten, | |
| dass Putin auf den roten Knopf drückt. Schließt den Himmel! | |
| Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
| 4 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Eskalation-in-der-Ostukraine/!5837236 | |
| [2] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5839350 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Murlykina | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Mariupol | |
| Wladimir Putin | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| taz на русском языке | |
| Mariupol | |
| Belarus | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Kolumne Grauzone | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Alltag im russisch besetzten Mariupol: Alles nur Fassade | |
| Die schwer zerstörte ukrainische Stadt ist nur noch von Russland aus | |
| zugänglich. Die Menschen leiden unter der Kälte, der Aufbau läuft | |
| schleppend. | |
| Krieg in der Ukraine: Wie sich Geschichte wiederholt | |
| Das Rentner-Ehepaar Vartanjan musste 2014 aus Donezk fliehen. Jetzt gelang | |
| es ihnen, der Hölle in Mariupol zu entkommen. Die Geschichte einer Flucht. | |
| Krieg in der Ukraine: Warten auf Erlösung | |
| In der Hafenstadt Mariupol warten die Menschen immer noch auf einen | |
| Hilfskonvoi. Bislang vergeblich. Es soll dort bereits mehr als 2.000 Tote | |
| geben. | |
| Война в Украине: Это трудно осознать | |
| Гуманитарная помощь не приходит в город, шт… | |
| отчаянии. Репортаж из осажденного Мариупол… | |
| Krieg in der Ukraine: „Das alles ist schwer zu begreifen“ | |
| Humanitäre Versorgung kommt nicht in die Stadt, Zivilisten nicht heraus, | |
| die Menschen sind verzweifelt. Ein Bericht aus dem belagerten Mariupol. | |
| Ukrainekrieg vor dem UN-Gerichtshof: „Groteske Lügen“ | |
| Die Ukraine erhebt in Den Haag schwere Vorwürfe gegen Moskau. Damit wird | |
| auch das internationale Rechtssystem auf die Probe gestellt. | |
| Krieg in der Ukraine: Im Todeskessel von Mariupol | |
| Die Einrichtung humanitärer Korridore in der Hafenstadt ist mehrmals | |
| gescheitert. Kaum, dass die Evakuierung beginnt, werden Menschen | |
| beschossen. | |
| Belarus und der Krieg in der Ukraine: Nichts wie weg | |
| Hunderte Belarussen sind nach Litauen geflohen. Sie haben Angst, dass sie | |
| zwangsrekrutiert werden und in der Ukraine kämpfen müssen. | |
| Russlands Strategie in der Ukraine: Vorzugsweise zivile Ziele | |
| Putin wollte die Ukraine schnell erobern und gefügig machen. Doch damit ist | |
| Russlands Präsident gescheitert. Seine neue Strategie: blinde Zerstörung. | |
| Die Ukraine nach Russlands Einmarsch: Einfach unvorstellbar | |
| Ich möchte an eine Zukunft glauben, in der Putin der Verlierer ist und | |
| Ukrainer:innen in ihr Land zurückkehren können. Nur: Es geht nicht. | |
| Krieg in der Ukraine: Ohne Pass und ohne Perspektive | |
| Es sind nicht nur Ukrainer, die flüchten. Naveed lebte in Charkiw und | |
| Fatemas Familie flüchtete nach Ternopil. Alle sind aus Kabul und stecken | |
| nun fest. | |
| Russische Kriegsverbrechen: Chefankläger ermittelt in Den Haag | |
| Auf Ersuchen von 39 Staaten hat der Chefankläger am Weltstrafgericht ein | |
| Verfahren zur „Situation in der Ukraine“ eröffnet. Was bedeutet das? | |
| Ukrainische Flüchtlinge in Polen: Zuflucht hinter der Grenze | |
| Seit dem russischen Überfall haben eine Million Menschen, vor allem Frauen | |
| und Kinder, die Ukraine verlassen. Die meisten flüchten nach Polen. |