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# taz.de -- Russlands Strategie in der Ukraine: Vorzugsweise zivile Ziele
> Putin wollte die Ukraine schnell erobern und gefügig machen. Doch damit
> ist Russlands Präsident gescheitert. Seine neue Strategie: blinde
> Zerstörung.
Bild: Eine Frau in den Trümmern von Schytomyr am 4. März
Berlin taz | Am Samstag vor einer Woche, der russische Überfall auf die
Ukraine war gerade einmal zwei Tage alt, veröffentlichte die staatliche
russische Nachrichtenagentur RIA-Novosti einen Jubelkommentar zum Endsieg.
Unter einem Foto des Maidan in Kiew und der Überschrift „Der Vorstoß
Russlands und die neue Welt“ stellt der Kommentator fest: „Die Ukraine ist
zu Russland zurückgekehrt.“ Die „Tragödie von 1991“, also der Zerfall d…
Sowjetunion, sei überwunden, die „russische Welt“ wieder vereint.
Der Text wurde nach einer Minute wieder gelöscht, da hatten ihn aber schon
Leute gelesen und archiviert. Die versehentliche Veröffentlichung verriet,
was zahlreiche Berichte mittlerweile bestätigen: Die Führung in Moskau ging
von einem kurzen Krieg aus, in dem einige Angriffe genügen, damit die
Ukraine die Waffen streckt und eine neue Führung in Kiew die Macht
ergreift, die sich Moskau unterwirft. „Du wirst dich fügen, meine Schöne“,
hatte Präsident Wladimir Putin seine Ukraine-Pläne vor vier Wochen [1][in
Moskau im Beisein von Emmanuel Macron] genannt.
Das hat nicht geklappt. Nach gut einer Woche Krieg ist klar: Russlands
Vormarsch stockt. Kaum irgendwo sind die Invasoren über ihre anfänglichen
Vorstöße hinausgekommen – mit Ausnahme des Südens um das [2][eingekesselte
Mariupol] nahe der Front zu den Separatistengebieten im Donbass und das
beim zweiten Versuch eroberte Cherson an der Mündung des Dnepr.
Alle Versuche, auf die Hauptstadt Kiew vorzustoßen oder einen
Belagerungsring um sie zu ziehen, wurden zurückgeschlagen. Ebenso verhält
es sich mit der zweitgrößten [3][ukrainischen Stadt Charkiw].
## Bomben als kollektive Bestrafung
In den letzten Tagen eroberte die Ukraine mehrere verlorene Orte nahe Kiew
zurück. Jeden Tag gibt es neue Meldungen über zerbombte russische
Nachschubkolonnen. Die ukrainische Bilanz der russischen Verluste betrug am
Freitag 9.166 Soldaten, 33 Flugzeuge, 37 Hubschrauber, 251 Panzer und
vieles mehr. Russland hat bisher lediglich am Mittwochabend 498 tote,
eigene Soldaten bestätigt – einen Tag, bevor Präsident Wladimir Putin in
einer Ansprache behauptete, die „Operation“ verlaufe „nach Plan“.
Tatsächlich verändert Russland seine Kriegsstrategie. Es versucht aktuell
nicht mehr, mit Panzern Städte zu erobern. Städte werden jetzt massiv
bombardiert, aus der Luft, mit Raketen und mit schwerer Artillerie,
vorzugsweise Wohngebiete und zivile Ziele. Es ist eine Art kollektive
Bestrafung der ukrainischen Bevölkerung, weil sie sich nicht fügt.
Manche Bilder erinnern an die düstersten Szenen der russischen Intervention
in Syrien, wo Russland mit massiven Luftangriffen ab 2015 das bedrängte
Assad-Regime rettete – um den Preis eines komplett zerstörten Landes, in
dem die Hälfte der Bevölkerung fliehen musste.
„Der Kreml neigt dazu, an Gewaltanwendung festzuhalten, wenn er von der
eigenen Sache überzeugt ist“, analysiert lapidar der führende britische
militärpolitische Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) in einer
am Mittwoch veröffentlichten Studie. Zwar wäre das Szenario „Kiew
plattmachen“ die für Moskau „politisch ungemütlichste Option“, bemerkt
Autor Lance Davies und fügt in britischem Understatement hinzu, bei
Angriffen „sind städtische Bevölkerungen selten neutral“.
Doch „wenn weniger gewaltsame Maßnahmen wirkungslos bleiben, könnte sich
die militärische und politische Führung Russlands zur Überzeugung
durchringen, dass ein blutiger Angriff auf Kiew ihre einzige Option ist“.
## Schwäche der russischen Streitkräfte
Denn ohne Regimewechsel in der ukrainischen Hauptstadt kann Russland den
Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen. Und genau da liegt der blinde Fleck
in Moskaus Politik. Alle Analysten sind sich einig, dass der Kreml den
Widerstandswillen und die militärischen Kapazitäten der Ukraine total
unterschätzt hat.
Darüber hinaus sorgen eklatante Schwächen der russischen Streitkräfte für
Überraschung bei Beobachtern, die seit Jahren die Modernisierung der
russischen Streitkräfte begleiten. Russlands Angriff auf die Ukraine begann
am 24. Februar zwar wie erwartet mit Raketenschlägen auf die ukrainischen
Radarsysteme, aber es folgte keine Ausschaltung der ukrainischen Luftwaffe,
um Lufthoheit herzustellen.
„Die rund 300 modernen Kampfflugzeuge, die die russische Luftwaffe in
Reichweite der wichtigsten Einsatzgebiete positioniert hat, scheinen in den
ersten vier Tagen zumeist am Boden geblieben zu sein“, schreibt der
RUSI-Analyst Justin Bronk. Die Russen hätten ihre fehlende Lufthoheit dann
einfach ignoriert. „Mehrfach wurden russische Kolonnen jenseits der
Reichweite ihrer eigenen Luftabwehr losgeschickt, und manchmal steckten
begleitende Luftabwehrbatterien im Stau fest.“ Das Ergebnis: keine
effektive Gegenwehr bei ukrainischen Gegenangriffen.
Fehlende Abstimmung zwischen Boden- und Luftstreitkräften und zwischen
Einheiten betonen auch die Tagesberichte des Institute for the Study of War
(ISW) in den USA. „Russische Kommandeure scheinen lieber neue Fronten zu
öffnen, als Synergien herzustellen“, resümiert der jüngste ISW-Bericht vom
Donnerstag die „weiterhin erfolglosen“ Versuche, Kiew zu umzingeln und
Charkiw zu erobern. Selbst in der Südukraine, wo es Erfolge gibt, „ziehen
sie Operationen an drei verschiedenen Achsen vor, statt sich auf eine zu
konzentrieren oder sich gegenseitig zu unterstützen“, und „diese einfachen
operativen Fehler bleiben unerklärlich“.
## „Als Kanonenfutter im Stich gelassen“
Das Bild, das die Analysen zeichnen, ist das einer
Fußballnationalmannschaft aus Profis, die noch nie miteinander gespielt
haben. Dabei sind es nicht mal alles Profis. In der Ukraine mehren sich
Berichte über gefangengenommene blutjunge russische Wehrpflichtige, die
dachten, sie seien im Manöver.
Kritik an Russland äußert sich inzwischen auch von innen. Ausgerechnet Igor
Girkin, beim Krieg von 2014 prominenter Separatistenführer, betont auf
Twitter den desolaten Zustand der russischen Truppe. Auf einem am
Donnerstag veröffentlichten Video stehen Soldaten im Matsch und schimpfen,
sie seien „als Kanonenfutter im Stich gelassen“ worden. Seit Tagen
schliefen sie draußen, ohne Zelte, ohne richtiges Essen und Wasser, nicht
einmal die Toten würden eingesammelt und sie sollten rückdatierte
Entlassungspapiere unterschreiben, damit man dementieren könne, dass sie je
im Einsatz waren.
Es klingt wie eine Truppe kurz vor der Meuterei. Die US-Fachleute vom ISW
erwarten nun das Heranschaffen von Verstärkung aus anderen Teilen Russlands
und mehr Angriffe auf die Zivilbevölkerung – aber keine Wende im Krieg:
„Die anfänglichen Irrtümer, die zu logistischen und operativen Fehlern um
Kiew beitrugen, werden nur schwer zu beheben sein und dürften weiter zu
Friktionen und verminderter Effektivität führen, auch wenn
Versorgungsprobleme gelöst werden und Verstärkungen zum Einsatz kommen.“
Die ambivalente Kriegslage fasste am Freitag US-Analyst Glen Grant im Kyiv
Independent zusammen. „Die Ukraine hat diesen Krieg militärisch gewonnen“,
schreibt er. „Sie hat gewonnen, weil sie mutig und klug gekämpft hat, und
nun kann Russland nichts tun, um die Struktur der Ukraine zu verändern […]
Aber die Zerstörung und Ermordung von Zivilisten geht Tag und Nacht weiter.
Denn wie ein rachsüchtiger Ex will Putin die Ukraine zerstören. Es ist die
Haltung ‚Wenn ich sie nicht haben kann, bekommt sie niemand.‘“
4 Mar 2022
## LINKS
[1] /Frankreichs-Praesident-Macron-in-Moskau/!5833474
[2] /Krieg-im-ukrainischen-Mariupol/!5839352
[3] /Eindruecke-aus-Charkiw/!5838920
## AUTOREN
Dominic Johnson
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