# taz.de -- Reflexion über den Ukrainekrieg: Raus aus der Einbahnstraße | |
> Kriege fordern schnelles Handeln und lassen wenig Raum zum Nachdenken. | |
> Dennoch braucht es ein Reflektieren, wie es zum Ukrainekrieg kommen | |
> konnte. | |
Bild: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg besucht Nato-Soldaten in Lettland | |
Das historische Denken ist fast unweigerlich von Zweifel geprägt, weil im | |
Rückblick klar wird, wo Geschichte anders hätte verlaufen können. | |
[1][Historiker*innen sind dabei keine besseren Menschen], sie sind | |
genauso anfällig für Heuchelei, Opportunismus, Ideologie wie andere | |
Menschen auch. Aber ich glaube, es hilft schon, wenn man die Gegenwart | |
quasi von der Unterseite betrachten lernt, vom Boden aus, und sieht, wie | |
sich die Dinge entwickelt haben; und wo sie sich anders hätten entwickeln | |
können. | |
Man kann das Ambiguitäts-Toleranz nennen oder einfach die Fähigkeit, | |
verschiedene Standpunkte gleichzeitig zu sehen – idealerweise wäre etwa ein | |
medialer Diskurs so geprägt, von Widersprüchen, denn die Wirklichkeit ist | |
meistens dialektisch und selten eine Einbahnstraße. Die Demokratie lebt von | |
dieser Pluralität der Perspektiven, und es ist eine Ironie der vergangenen | |
Jahre, dass die Diskurspanik, also die Dauerrede von der Gefahr von | |
[2][„Cancel Culture“] und „Wokeness“, eher dazu beigetragen hat, dass s… | |
Menschen an ihre Standpunkte klammern wie an einen Rettungsring. | |
Es heißt dann immer, die Zeiten seien so unübersichtlich geworden und so | |
komplex. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es ist nicht falsch. Aber das heißt | |
ja noch nicht, dass es richtig ist. Das zum Beispiel wäre so eine | |
dialektische Bewegung, wie sie Denken voranbringen könnte, das an etwas | |
Neuem interessiert ist, an einer Verbindung von Wahrheiten oder | |
Wahrnehmungen, die bislang lose im Raum drifteten. | |
Ein Krieg ist keine besonders gute Zeit für Ambiguität, und das hat auch | |
gute Gründe. Im Krieg wollen die Menschen Antworten, sie wollen Klarheit – | |
und in diesem Krieg ist einiges sehr klar: Wer der Aggressor ist etwa, wer | |
Städte bombardiert, wer Zivilisten tötet, wer Zerstörung walten lässt und | |
wer sich über das Völkerrecht erhebt. | |
Die Fragen, in diesem Moment, sind erst einmal sehr viel dringendere, von | |
Humanität und Not, von Hilfe und Protest, von Widerstand und Mut, von | |
Verzicht und Hoffnung, von Mitleid, Tod und Trauer, von Schuld und Opfern. | |
Das heißt aber nicht, dass andere Fragen nicht gleichzeitig präsent sind, | |
gleichzeitig gedacht werden können. | |
Die Gleichzeitigkeit zuzulassen oder zu ermöglichen, das ist, glaube ich, | |
historisches Denken in der politischen Praxis. Man sollte das mit Demut tun | |
und mit Vorsicht, mit Bedacht und nicht mit einer Geste des intellektuellen | |
Triumphs. | |
Man sollte aber auch offen sein für die Widersprüche von Entwicklungen, und | |
nicht alle Widersprüche müssen kausal zu der gegenwärtigen Situation | |
hinführen – manchmal reichen Widersprüche schon aus, um alternative Wege | |
erkennen zu lassen, um aus der Vergangenheit wenigstens für den Zeitpunkt | |
zu lernen, der jenseits des Schreckens liegt, denn hier, in diesem Moment, | |
ist Handeln oft erst einmal wichtiger als Denken. | |
Es ist aber doch hilfreich, um diesen Krieg zu verstehen, wenn man sich die | |
Geschichte der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges noch einmal anschaut: | |
wenn man versucht zu verstehen, wie extrem wirkmächtig tatsächlich die | |
Formel vom [3][„Ende der Geschichte“ war, wie sie Francis Fukuyama] für | |
eine ganze Generation formulierte, was eher zu einem Ende des Nachdenkens | |
führte und eben zu engen Gleisen, auf denen sich das Politische | |
fortbewegte. Ein gewisser Automatismus schien die Gegenwart erfasst zu | |
haben, wie trügerisch er war, zeigt sich nicht erst jetzt. | |
Denn die Fehler, deren Folgen wir heute auch sehen, begannen damals, und es | |
nimmt nichts von der Schuld Wladimir Putins, sich noch mal zum Nato-Gipfel | |
von Bukarest im Jahr 2008 zurückzuversetzen, als der Ukraine und Georgien | |
eine Mitgliedschaft in diesem Verteidigungsbündnis in Aussicht gestellt | |
wurde, das eigentlich seinen Daseinszweck überlebt hatte, jedenfalls dann, | |
wenn das Ende der Geschichte real gewesen wäre. | |
Man kann auch das Ambiguitäts-Toleranz nennen, ein Militärbündnis zur | |
Sicherung des eigenen Sieges zu schmieden – so oder so hilft es, sich in | |
diesen historischen Moment zu versetzen, um die möglichen Alternativen zu | |
sehen. | |
Und hier, in diesem Wort, glaube ich, konzentriert sich der Zeitgeist von | |
damals – denn es war ja gerade die Alternativlosigkeit, die in den Jahren | |
und Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs so oft | |
beschworen wurde, ein Denken also geprägt von Scheuklappen, eine Einübung | |
in intellektueller Unmündigkeit. | |
Es war etwas antiaufklärerisches in dieser Geste, die oft verbunden war mit | |
der vermeintlichen Notwendigkeit oder Naturgesetzlichkeit von | |
wirtschaftlichen Gegebenheiten, etwa in der Wirtschafts- und Finanzkrise, | |
die in ebenjenem Jahr 2008 ihre volle Wirkung zu entfalten begann. | |
Dieses Denken in Alternativlosigkeiten hatte dann auch politische Folgen, | |
für das Handeln der politischen Akteure genauso wie für die Wahrnehmung | |
durch die Bürger*innen, weil es intellektuell deprimierend und seltsam | |
bevormundend wirken musste. | |
Manches davon findet sich auch in den [4][Krisenmomenten der Ukraine schon | |
2013 und 2014], als aus diesem Denken quasi Policy-Vorgaben geworden waren, | |
also Handreichungen für konkretes Handeln. Damals wurde von einigen Medien | |
herausgearbeitet, welche Fehler gemacht wurden, zwischen der EU, Russland | |
und der Ukraine – aber im Westen jedenfalls hat man, auf verschiedenste Art | |
und Weise, aus diesen Fehlern kaum gelernt. | |
Und so sehen wir nun das Schauspiel all derer, die, wohl vollkommen | |
ehrlich, zugeben, dass sie vollkommen überrascht waren von dem, was sich | |
gerade ereignet. Dass sie nie damit gerechnet hätten. Es ist auch eine | |
erschreckende Art von Eliteversagen, das wir gerade beobachten. Viele Leute | |
haben ihren Job nicht gemacht. Manchmal wird das nun als „Naivität“ | |
bezeichnet, als Schutzbehauptung. Ich glaube, es ist eher so, dass viele | |
nicht hinsehen wollten und lernen, aus den Fehlern der Vergangenheit. | |
9 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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