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# taz.de -- Politische Debattenkultur in Deutschland: Diskursive Unfähigkeit
> Die deutsche Öffentlichkeit verliert sich gern im Klein-Klein. Bis sich
> in Krisen zeigt: Auf komplexere Fragen ist niemand vorbereitet.
Bild: Es fehlen Formate, die große Themen so präsentieren, dass sie zu gesell…
Putin ist Putin, und er hat nie vorgegeben, etwas anderes zu sein als
Putin. Kein Despot muss sich die Mühe machen, den Westen zu täuschen, der
Westen täuscht sich schon selbst. Demokratische Regierungschefs reisen zu
Diktatoren und wagen es kaum, Menschenrechts- oder Freiheitsfragen auf die
Agenda zu setzen – Diplomatie heißt das dann, der Dialog muss fortgesetzt
werden! Fortgesetzt wird jedoch hauptsächlich der Handel, der Dialog reißt
ab.
Warum wurde in den letzten Jahren die sicherheitspolitische [1][Debatte]
nicht aufrichtig geführt: Wo war die breitere gesellschaftliche Debatte
darüber, wie abhängig wir uns von Putin machen dürfen? Es gab tatsächlich
keinen Plan B für den Katastrophenfall, der jetzt eingetreten ist. Wir sind
abhängig; sorry, auf jeden Fall bis zum Winter untergraben wir unsere
eigenen Sanktionen gegen Putin! Der beste Rat bisher ist, dass wir Strom
sparen sollen, es gibt ja auch Pullis.
Es sind eben solche Vorschläge, die zeigen, wie wenig geübt die deutsche
Öffentlichkeit noch darin ist, über die Lage der Welt nachzudenken. Heizung
an- und ausdrehen, das können wir anscheinend verarbeiten, aber das Wissen
über Geopolitik, die Bedeutung Deutschlands oder gar der liberalen
Demokratien in der Welt ist kaum ein Thema in den Alltagsgesprächen dieses
Landes. Politik ist in Deutschland eine immer kleinteiligere Frage
geworden, und der Umgang mit der Coronapandemie war exemplarisch für unsere
diskursive Unfähigkeit: Wir haben uns über Kleinstmaßnahmen von Bundesland
zu Bundesland gestritten, wir haben allen mehr oder minder erfolgreichen
Ministerpräsidenten die Bühne geboten, obwohl sie nichts zu sagen hatten –
gelöst haben wir die Probleme damit noch lange nicht.
In Deutschland lieben wir den [2][diskursiven Nebel]. Vier Talkshows bieten
uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lang
ausschließlich die pandemische Lage beackert. Natürlich kann man sagen, das
lag an der historischen Herausforderung, es lag aber auch daran, dass es
der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein
aufzublasen, so zu tun, als verstehe man in den Redaktionen den armen
Michel oder die Luise in Bottrop; ich weiß nicht, wie man diese
Kunstfiguren des mittelmäßigen Verstehens im Journalismus sonst noch nennt.
Diese Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt eben
nicht in der Lage wären, strukturelle Fragen in den Blick zu nehmen,
Verbindungen zu ziehen und so nach Schaltstellen zu suchen, an denen man
Größeres bewegen könnte. Dieses [3][beharrliche Unterschätzen der
demokratischen Öffentlichkeit], tausend Nostalgiesendungen wurden in den
letzten zwei Jahren produziert, man will uns ja Ablenkung schenken, daher
auch die Behauptung: Der erneute Angriff auf die Ukraine kam „plötzlich“
und „unerwartet“.
Wer hätte das ahnen können, fragen jetzt einige, als müsste man sich
freisprechen. All das, was Putin jetzt tut, kam mit Ansage. Wir müssen
anfangen, das kollektive Wegsehen aufzuarbeiten. Die Ermüdung, wenn es um
die komplexen politischen Fragen der Welt geht, die
Hintergrundinformationen verlangen. Es fehlen Formate, die große politische
Themen auf eine Art präsentieren, dass sie zu breiten gesellschaftlichen
Debatten werden. Die „Talkshows“ sollten ergänzt werden durch wirkliche
Gesprächsformate – ohne Politiker in der Runde, die sowieso nur das
wiederholen, was sie schon in ihren Nachrichtenstatements abgegeben haben.
Es braucht mehr kritische Einordnungen, eine höhere Themenvielfalt und den
Abschied von der Idee, dass Menschen, nur weil sie ärmer sind oder weniger
gebildet, es nicht nötig hätten, auch komplexere Fragen erläutert zu
bekommen. Eine andere Ursache für die Verdrängung ist die krankhafte
Fokussierung auf die eigenen Befindlichkeiten. Drei Stunden liefen die
Bilder vom Krieg und schon fragen hier alle: Wie halte ich es aus, mir das
alles anzusehen? Natürlich ist es legitim, sich selbst zu schützen.
## Privatisierung des Kriegs
Doch die Art, wie wir unsere Gefühle über einen Krieg, den andere führen
müssen, in den Mittelpunkt unseres Redens stellen, macht mich stellenweise
fassungslos. Kaum rede ich fünf Minuten mit Leuten über die Ukraine, sagt
jeder Zweite zu mir: „Aber wir müssen auch sehen, dass es uns gut geht.“
Muss man sich bei allem fragen, ob es einem dabei gut geht? Geht es uns
denn „schlecht“, wenn wir uns anfassen lassen von einem Krieg und seinen
unschuldigen Opfern, oder geht es uns eigentlich angemessen?
Es ist, als hätte das Grauen, das Leben eben auch sein kann, keinen Platz
mehr in unserer Gesellschaft, ohne dass man die emotionalen Reaktionen auf
diesen Schrecken sofort pathologisieren oder wegberaten müsste. Man sucht
oder gibt sofort Rat, wie das Leiden wieder weggehen kann, statt eben
diesen Leidensdruck als etwas zu erkennen, das wieder an die Welt zurück
gerichtet werden muss: Wir leiden an diesem Unrecht und sollten das
gesellschaftlich zum Ausdruck bringen, nicht nur Ratschläge erteilen, wie
es uns gelingen kann, an dem Elend nicht zu leiden. Uns abzulenken.
Es ist diese merkwürdige Verdrängung und Privatisierung von Leiden, die
dazu geführt hat, dass zahlreiche gesellschaftliche Missstände nicht mehr
angeprangert werden. Das Problem ist nicht, dass wir zu weich sind, sondern
dass auch eine solidarische Öffentlichkeit fehlt, die gemeinsam leidet und
den Verantwortlichen deutlich macht, dass man diese Inhumanität nicht
dulden will. Strukturelles Denken fehlt. Aber auch der Glaube daran, dass
wir gemeinsam etwas ändern können. So verdrängen viele dankbar, schlicht
weil sie überfordert und vereinzelt sind.
Es wird in der Ukraine keine Geschichte von David und Goliath geben, auch
wenn das eine tröstliche Hoffnung ist. Wir müssen lernen, den Schock
zuzulassen, Zusammenhänge tiefer zu verstehen. Statt das Leiden zu
privatisieren, ist es Zeit zu fragen: Was müssen wir tun?
16 Mar 2022
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## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Diskurs
Schlagloch
Liberalismus
Schwerpunkt Coronavirus
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