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# taz.de -- Die Ukraine nach Russlands Einmarsch: Einfach unvorstellbar
> Ich möchte an eine Zukunft glauben, in der Putin der Verlierer ist und
> Ukrainer:innen in ihr Land zurückkehren können. Nur: Es geht nicht.
Bild: Plötzlich fallen Bomben auf Orte, die du kennst: Zerstörung in der ukra…
Am Tag vor dem Angriff auf die Ukraine gab es eine Zukunft. Seit
vorvergangenem Donnerstag ist sie nur schwer vorstellbar. Wenn [1][Russland
sich militärisch durchsetzt], dann wird es diese Ukraine nicht mehr geben,
höre ich jemanden im Radio sagen. Ich kann diesen Satz kaum glauben, weil
er eine Zukunft formuliert, die für mich aktuell nicht greifbar ist. Eine
Zukunft ohne dieses Land gibt es für viele nicht: für Ukrainer:innen
nicht, ebenso wenig für ihre Angehörigen und Freund:innen.
Zukunft ist für mich zu einem abstrakten Wort geworden, das ich nur schwer
mit Konkretem füllen kann. Ich sehe Videos eines Grenzübergangs im Westen
der Ukraine, den ich seit Kindheitstagen unzählige Male überquert habe. Mit
dem Zug, dem Auto, in einem Minibus, einer sogenannten Marschrutka, und
auch zu Fuß. Nun laufen dort Menschenmassen auf; junge Frauen mit Babys im
Arm, Kinder und Alte. Ihre Gesichter sind müde, verhärtet.
Wo es kein Morgen gibt, geben Nachrichten Struktur. Nach den Meldungen am
Morgen will ich mich meistens wieder hinlegen. Aber das geht natürlich
nicht. Stattdessen, weitere Meldungen lesen, Telegram-Chatgruppen
durchforsten, bei Freund:innen nachfragen: Leben deine noch? Geht es
allen gut?
In den vergangenen Tagen hörte ich immer wieder, dieser Krieg werde auch
hier in Deutschland ankommen und Auswirkungen auf dieses Land haben: weil
Flüchtlinge aus der Ukraine ankommen werden und die Gaspreise womöglich
steigen könnten. Der Krieg berührt Deutschland aber jetzt schon auf ganz
andere Weise.
## Ukrainer:innen sind keine Minderheit
2,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion migrierten seit Ende
der 80er Jahre nach Deutschland, viele von ihnen auch aus der heutigen
Ukraine. Allein in Brandenburg und Berlin, wo ich wohne, leben knapp
[2][18.000 Menschen mit ukrainischen Pässen]. Ukrainer:innen sind hier
keine Minderheit.
Wie schon 2014, nach der [3][Annexion der Krim] und dem Beginn des Kriegs
in der Ostukraine, zeigt dieser Angriffskrieg nun, dass er nicht weit weg,
sondern nah ist. Damals nur wollten das die wenigsten hören. Statt sich
Gedanken über die Zukunft der Ukraine zu machen, führte man lieber Dialoge
mit Russland.
Jetzt geht wieder ein Riss durch manche Familien. Um die einen sorgst du
dich, die anderen hast du an Putins Propaganda verloren. Du könntest noch
so laut schreien, dass gerade Bomben auf dein Haus fallen, sie werden dich
nicht hören. Auch das schmerzt. Wie wird man sich je wieder begegnen und in
die Augen schauen können?
Eine Freundin, deren Familie [4][im ostukrainischen Charkiw] festsitzt, ist
seit Tagen in einem Ohnmachtsgefühl gefangen. Es fühle sich an, als sei in
ihrem Kopf eine Bombe explodiert, sagt sie. Ich kann sie kaum mehr sehen,
sie verschwindet hinter Zigarettenrauch. Sprechen fällt schwer, einfacher
ist weinen. Die ersten Tage des Angriffskriegs konnte ich nicht weinen und
schämte mich. Dann irgendwann kamen mir doch die Tränen und ich schämte
mich noch viel mehr. Wem nützen meine Tränen?, dachte ich. Den
Ukrainer:innen? Dieser Freundin? Mir selbst?
Ich habe keine enge Familie in der Ukraine, das fühlt sich heute an wie ein
Privileg. Und doch berührt es dich auf eine besondere Weise, wenn du die
Orte, die Straßen und Denkmäler, auf die plötzliche Bomben fallen, kennst.
Wenn Orte deiner Kindheit und Jugend verschwinden, Tag für Tag, und du
nicht weißt, wann du je dorthin zurückkehren wirst.
Ich möchte gerne an eine Zukunft denken, in der Putin der Verlierer ist und
Ukrainer:innen in ihr Land zurückkehren können. Solange Bomben auf
Menschen abgeworfen werden und in ihren Köpfen hier explodieren, wird das
nicht gehen.
4 Mar 2022
## LINKS
[1] /Krieg-im-ukrainischen-Mariupol/!5839352
[2] https://www.rbb24.de/politik/thema/Ukraine/beitraege/statistik-berlin-brand…
[3] /Fuenf-Jahre-nach-der-Krim-Annexion/!5580865
[4] http://xn--Seit%20dem%20Beginn%20der%20Proteste%20in%20Russland%20mit%20dem…
## AUTOREN
Erica Zingher
## TAGS
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