# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Odessa in Bereitschaft | |
> Seit zwei Wochen ist die Stadt am Schwarzen Meer im Visier Russlands. Die | |
> Einwohner*innen, die geblieben sind, bereiten sich auf das Schlimmste | |
> vor. | |
Bild: Sandsäcke gegen Bomben: Das Denkmal des Herzogs von Richelieu im Zentrum… | |
ODESSA taz | Sie ist eine der malerischsten Städte der Ukraine, und sie | |
liegt am Schwarzen Meer: Odessa. Hier leben über 1 Million Menschen, die | |
über 100 Nationalitäten angehören. Odessa ist – was als Perle der | |
Architektur und Kultur bezeichnet werden kann – mit Festfestivals, | |
Konzerten, Museen und vielen Theatern. Eine Besonderheit ist die Oper, die | |
1887 fertiggestellt und nach Entwürfen der Wiener Architekten Ferdinand | |
Fellner und Hermann Gottlieb Helmer erbaut wurde. | |
Aber das Unvorstellbare ist passiert: Odessa war eine der ersten Städte, | |
die Russland [1][am frühen Morgen des 24. Februar] im Rahmen seiner | |
„Befreiungsoperation“ angriff. Um 5 Uhr morgens explodierten die ersten | |
Bomben, dann geht es Schlag auf Schlag. Vor den Geldautomaten bilden sich | |
lange Schlangen, genauso wie vor Supermärkten, Apotheken und Wechselstuben. | |
Auf den Straßen aus der Stadt hinaus stauen sich die Autos. Sie fahren | |
Richtung Moldau und in den Westen der Ukraine. Unterschiedlichen Angaben | |
zufolge sind in den ersten 13 Tagen seit Kriegsbeginn [2][mehr als 100.000 | |
Menschen geflohen]. Die, die geblieben sind, werden nicht weichen. In den | |
ersten Tagen helfen viele Odessit*innen an der Seite der ukrainischen | |
Armee mit, „Saboteure“ zu fangen. | |
Es stellt sich heraus, dass sie schon vorher nach Odessa gekommen sind, | |
Wohnungen gemietet und einfach „abgewartet“ haben. In der Stadt selbst ist | |
niemand überrascht über einen Moskauer oder einen anderen Akzent. In der | |
Tourismussaison sind in jeder Straße fünf bis sechs verschiedene Sprachen | |
zu hören. | |
## Sperrstunde ab 19 Uhr | |
Doch jetzt ist alles anders. In Odessa wird eine Sperrstunde ab 19 Uhr | |
eingeführt. An den ersten Abenden kann man vom Fenster aus Schießereien | |
hören – Zeugnisse dessen, dass Gruppen von Saboteuren gefangen und | |
„neutralisiert“ werden. Tagsüber sind viele Menschen auf den Straßen. Die | |
Odessit*innen gehen einkaufen, Freiwillige beschaffen die notwendigsten | |
Dinge. Ältere und Kinder werden nach Hause geschickt, um Tarnnetze zu | |
flechten. | |
Läden sind geöffnet, die Preise für Lebensmittel um 30 Prozent gestiegen. | |
Das Angebot an Nudeln und Müsli ist überschaubar, auch bei Fleischprodukten | |
gibt es weniger Auswahl. In den Supermärkten ist der Verkauf von Alkohol | |
verboten. Brot gibt es aber noch genug. Auch auf den Märkten ist fast alles | |
zu haben, der berühmte Markt Odesski Privoz und der Neue Markt im Zentrum | |
der Stadt sind in Betrieb. Hier ist aber alles teurer als im Supermarkt. | |
Ein Kilogramm Fisch kostet dort umgerechnet knapp 2 Euro. | |
Auf dem Neuen Markt haben sogar einige Baumärkte eröffnet. Medikamente zu | |
bekommen wird jedoch immer schwieriger. Besondere Arzneien werden nur über | |
die sozialen Netzwerke vertrieben, einige müssen im Ausland besorgt werden. | |
Sie werden dann von Privatpersonen ins Land gebracht. | |
Odessas Strände waren schon früher bei den Odessit*innen beliebt, jetzt | |
verbringen viele dort ganze Tage: Sie füllen Sand in Säcke, die sie dann in | |
die Stadt bringen. Daraus werden Straßensperren gebaut. Im Stadtzentrum | |
wurden überall Panzerigel aufgestellt. Die Oper ist, wie 1942, von | |
Barrikaden umgeben. Mittlerweile ist der öffentliche Nahverkehr stark | |
eingeschränkt. An der Haltestelle wartet man 30 Minuten. | |
## Appelle an russische Schiffe | |
Taxiunternehmen erlauben denjenigen, die ihre Verwandten evakuieren wollen, | |
die Autos kostenlos zu benutzen. In der Stadt wurden alle Straßenschilder | |
entfernt. Stattdessen wurden Aufrufe an russische Schiffe angebracht. Die | |
Odessit*innen übernachten jetzt in Kellern, auf Fluren und in | |
Badezimmern. Es gab Zeiten, da hörte der Fliegeralarm gar nicht mehr auf. | |
Gleichzeitig kümmert sich die Verwaltung weiter um die Stadt und pflanzt | |
sogar Blumen. Es gibt Strom, Wasser, Gas, Internet und Mobilfunk. Einige | |
Privatschulen bieten online weiter Unterricht an. Am Samstag ist ein | |
Onlinekonzert geplant, in den Straßen sollen ukrainische Flaggen gehisst | |
werden. | |
„Hunderte Freiwillige arbeiten in der ganzen Stadt“, sagt Ekaterina | |
Noschewnikowa, Leiterin der Freiwilligenorganisation Monster-AG. „Ich habe | |
meinen Sohn fünf Tage nicht gesehen. Ich schlafe im Büro auf dem Boden und | |
wasche mich in der Küche über der Spüle. Viele machen das jetzt so. Aber | |
ich bin stolz auf das, was gerade in der Ukraine passiert. Die Menschen | |
sind einfach unglaublich“, sagt sie. | |
Seit 24. Februar treffen Marschflugkörper kritische | |
Infrastruktureinrichtungen und Gebäude der Armee. Die ukrainischen | |
Streitkräfte schießen immer wieder Raketen ab. Im Hafen feuert täglich | |
Flugabwehrartillerie. Unweit von Odessa sind russische Schiffe aufgetaucht, | |
eine Gruppe von Saboteuren hat versucht, an Land zu gehen. Die | |
Luftverteidigung schießt russische Flugzeuge ab. | |
Wer Odessa noch nicht kennt, dem sei gesagt: Die Stadt verdient es, geliebt | |
zu werden. Jetzt braucht es schnell humanitäre und finanzielle Hilfe. Es | |
geht ums Überleben. | |
Oksana Maslowa war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der [3][taz | |
Panter Stiftung]. | |
Aus dem Russischen [4][Barbara Oertel] | |
11 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Flucht-aus-Kiewer-Vororten/!5834064 | |
[2] /Ukrainische-Fluechtlinge-in-Polen/!5835719 | |
[3] /Panter-Stiftung/!p4258/ | |
[4] /Barbara-Oertel/!a1/ | |
## AUTOREN | |
Oksana Maslowa | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Russland | |
Odessa | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Mariupol | |
Kolumne Krieg und Frieden | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Putins Krieg in der Ukraine: Mit Klassik gegen Raketen | |
Seit Tagen bereitet sich Kiew auf die Verteidigung der Stadt vor. | |
Mittendrin gab das städtische Symphonieorchester ein Konzert auf dem | |
Maidan. | |
Krieg in der Ukraine: „Das alles ist schwer zu begreifen“ | |
Humanitäre Versorgung kommt nicht in die Stadt, Zivilisten nicht heraus, | |
die Menschen sind verzweifelt. Ein Bericht aus dem belagerten Mariupol. | |
Hauptstadt der Ukraine im Krieg: Wir werden siegen | |
In Kiew verteidigt die Zivilbevölkerung gemeinsam mit der Armee die Stadt. | |
Die Menschen bestärken und helfen sich gegenseitig. |