| # taz.de -- Putins Krieg in der Ukraine: Mit Klassik gegen Raketen | |
| > Seit Tagen bereitet sich Kiew auf die Verteidigung der Stadt vor. | |
| > Mittendrin gab das städtische Symphonieorchester ein Konzert auf dem | |
| > Maidan. | |
| Bild: Spielen für Frieden: Ein Musiker des Kiewer Symphonieorchesters auf dem … | |
| Kiew taz | Vor genau zwei Wochen begann der russische Großangriff auf die | |
| Ukraine, und die ersten Bomben fielen auf Kiew. Seitdem hat sich die | |
| ukrainische Hauptstadt in eine Festung verwandelt. Tag für Tag entstehen | |
| neue Verteidigungsanlagen, Barrikaden und Checkpoints, nicht nur auf den | |
| großen Straßen im Zentrum, sondern sogar in den Schlafstädten am Stadtrand. | |
| Für den Bau wird alles genutzt, was verfügbar ist: Busse, Pkws, | |
| Betonblöcke, Sandsäcke und alle möglichen anderen Dinge, die das Vorrücken | |
| der russischen Militärfahrzeuge aufhalten können. Besonders hässlich sehen | |
| die Betonblöcke auf den städtischen Hauptstraßen aus. Es sind haargenau die | |
| gleichen, die man damals für den Bau der Berliner Mauer genutzt hat. | |
| Dieser Anblick stärkt nicht nur das Vertrauen in die Verteidigungskraft, er | |
| schockiert auch: Niemand in Kiew möchte, dass wir diese Barrikaden wirklich | |
| brauchen. Den Kiewern war bis zu diesem Zeitpunkt nicht richtig bewusst, | |
| [1][dass der Krieg wirklich kommen würde] und dass der Kampf um ihre Stadt | |
| zum Wendepunkt in diesem russisch-ukrainischen Krieg werden könnte. | |
| Am Mittwoch, dem 9. März, hat das hauptstädtische Symphonieorchester | |
| Kiew-Klassik, ungeachtet des Kriegs, beschlossen, ein öffentliches Konzert | |
| namens „Free Sky“ auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, zu geben. | |
| ## „Ode an die Freude“ auf dem Maidan | |
| Damit möchten die Musiker die Forderungen der ukrainischen Regierung und | |
| der ukrainischen Bürger an die Weltgemeinschaft nach einem Schutz des | |
| ukrainischen Luftraums vor russischen Kampffliegern unterstützen. | |
| Diejenigen Orchestermitglieder, die noch nicht in der | |
| Territorialverteidigung kämpfen beziehungsweise Kiew verlassen haben, | |
| führten bei Minusgraden und in Alltagskleidung eine Reihe von klassischen | |
| Musikstücken auf, die ihrer Meinung nach die führenden Politiker der Welt | |
| erreichen sollten. Unter anderem spielten die Musiker die ukrainische | |
| Nationalhymne sowie die Europahymne, die „Ode an die Freude“ von Ludwig van | |
| Beethoven. | |
| „Wir möchten, dass die Musik des Friedens, die Musik des Lebens durch | |
| unsere Aufführung die Herzen aller Menschen der freien Welt und die | |
| politischen Führer dieser Länder erreicht und ihnen hilft, eine | |
| Entscheidung zu treffen, die den ukrainischen Himmel, unter dem wir hier | |
| auftreten, sicher macht“, betont Dirigent German Makarenko. | |
| Gerade als die letzten Töne verklungen waren, fingen die Luftschutzsirenen | |
| wieder zu heulen an, und die Musiker beeilten sich, den Maidan zu | |
| verlassen. Neben zahlreichen Journalisten, die über diese Aktion berichten | |
| wollten, waren auch Dutzende Kiewer gekommen. Junge Leute mit | |
| Ukraineflaggen, Frauen und Männer jeden Alters. Auf die Frage, warum sie | |
| weine, antwortete eine Frau, die ihre Gefühle kaum zurückhalten konnte und | |
| sich auch ihrer etwas obszönen Ausdrucksweise nicht schämte: „Warum ich | |
| weine? Weil ein Arschloch in unser Land gekommen ist und sich daran nicht | |
| satt essen kann, der Bastard. Möge die Erde unter seinen Füßen verglühen. | |
| Verrecken soll er!“ | |
| ## Evakuierung von 55 Kindern aus einem Kinderheim gelingt | |
| Zur gleichen Zeit hat im Nordwesten Kiews die Evakuierung der | |
| Zivilbevölkerung aus den Vorstädten Irpin, Worsel und Butscha begonnen. | |
| Erstmals seit der letzten Woche, in der heftig gekämpft wurde, hat die | |
| russische Seite einer Feuerpause von 9 bis 21 Uhr zugestimmt. Die | |
| ukrainischen Machthaber haben Busse und Züge bereitgestellt, mit denen die | |
| Menschen nach Kiew gebracht werden sollen. Doch zu den Sammelpunkten müssen | |
| die Menschen es mit eigener Kraft schaffen, das heißt, zu Fuß, weil es für | |
| Autos auf den verminten und zerschossenen Straßen viel zu gefährlich wäre. | |
| Nicht allen gelang dies im Laufe des Tages, und auch eine vollständige | |
| Waffenruhe konnte nicht erreicht werden. | |
| Viele, die bereits früher von dort hatten fliehen können, kontaktierten | |
| zurückgebliebene Verwandte und Freunde und informierten sie über die | |
| Evakuierung. Weil die Menschen in diesen Orten schon seit über einer Woche | |
| in den Kellern und anderen Schutzräumen sitzen und es die meiste Zeit weder | |
| Strom noch Zugang zum Internet gab, wussten viele gar nicht, dass sie | |
| evakuiert würden. | |
| Unter denen, denen die Evakuierung gelang, waren 55 Kinder und Betreuer aus | |
| dem Kinderheim Worsel. Sie wurden sofort ins Kinderkrankenhaus in Kiew | |
| gebracht, weil man nichts über ihren gesundheitlichen Zustand wusste. An | |
| nur einem Tag konnten bis zu 1.000 Menschen aus Vororten herausgeholt | |
| werden, darunter vor allem Kinder, Frauen und alte Leute. Das waren | |
| allerdings längst nicht alle, die sich für die Evakuierung bereit gemacht | |
| hatten. Bei Einbruch der Dunkelheit berichtete die ukrainische Seite, dass | |
| noch 50 leere Busse durch russisches Militär auf halber Strecke aufgehalten | |
| würden. | |
| Die, die es nicht heraus geschafft hatten, mussten wieder in ihre Keller | |
| zurückkehren. Dort hatten die Menschen praktisch die ganze Zeit seit Beginn | |
| der Kampfhandlungen verbracht. Ohne Heizung und Strom, bei vielen waren | |
| auch die Vorräte an Wasser, Lebensmittel und Medikamenten aufgebraucht. | |
| Besonders schwierig war die Evakuierung für Menschen mit Beeinträchtigung, | |
| die nicht mehr selbst laufen konnten und auf die Hilfe von Bekannten und | |
| anderen fürsorglichen Leuten angewiesen waren. Weil es kein Mobilfunknetz | |
| mehr gibt, können viele Menschen ihre Angehörigen schon seit über einer | |
| Woche nicht mehr erreichen und nicht herausfinden, ob sie noch leben. | |
| Wie viel Zivilbevölkerung noch in diesen Kiewer Vorstädten ist, ist | |
| unklar. [2][Genauso wenig weiß man, wann es in nächster Zukunft noch einmal | |
| einen „grünen Korridor“ geben wird.] | |
| Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
| 10 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anastasia Magasowa | |
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